Ein Rucksack voller fiktiver Bergbücher, die hart an Realitäten emporklettern.
„Der Schnee kam über Nacht. Er kam gewaltsam, wie ein Überfall, er fiel so dicht, dass am Morgen beides unmöglich schien: Bleiben oder gehen.“
Ein überaus starker Beginn. Knapp drei Zeilen, und schon ist man voll drin im Drama. Wir als Leser. Die drei Figuren Kathrin, Myriam und Leon erst recht. Aufgestiegen sind sie mit Skiern bei nicht schlechten Wetterprognosen in eine Hütte. Und wurden überrascht von einem Schneesturm, der tagelang anhalten wird. Gehen, solange noch nicht zu viel Schnee liegt? Oder bleiben und ausharren und hungern in der Hütte? Lebensentscheidende Fragen, die Peter Weibel in „Schneewand“ stellt. Eine wuchtige, elementare Erzählung, deren Sog man sich nicht entziehen kann, schon gar nicht diejenigen, die sich solche Fragen auch schon stellen mussten. Und vielleicht ebenfalls die falsche Entscheidung getroffen haben. Hoffentlich passiert solches nicht wieder auf der nächsten Skitour.
„Der Ausflug in die Berge war ein Versuch, die Fäden, die in Griechenland durcheinander geraten waren, wieder zu entwirren. Doch das Gelände war denkbar schlecht gewählt, steinig und hart.“
Beziehungen können in den Bergen verknotet, aber auch gelöst werden. Gerade, wenn plötzlich Situationen auftreten, in denen es um Leben und Tod geht. Wenn ein Sturz eine Lawine von Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen auslöst. Wie bei der Ich-Erzählerin Monika im Roman „Meer und Berge“ von Annette Lory; im Spital reflektiert sie die Freundschaft, die Griechenlandreise, die unglückliche Versöhnungstour mit Helen. Und ihre Kindheit in der Enge des Urnerlandes, die Flucht in die grosse Stadt am See, die Suche nach Helens Vater. Das Buch, das Helen unterwegs liest, heisst „Der Schneesturm.“ Wir entkommen ihm nicht.
„Die Tage waren kürzer, und es war kälter geworden, Raureif überzog die Natur oft schon bis in den Vormittag, und auf den Bergspitzen lag der erste Schnee.
Agnes lehnte sich an einen Felsbrocken und verschnaufte. Sie war so schnell unterwegs gewesen, dass sie auβer Atem war.“
Die 15-jährige Agnes ist die Heldin im Roman „Wolfsegg“ von Peter Keglevic; er spielt in einem engen Dorf in einem engen Bergtal. Eine himmeltraurige Geschichte, in welcher der Vater brutal zusammengeschlagen wird und die Mutter erbärmlich verreckt. Worauf Agnes mit ihren beiden kleinen Geschwistern in eine Hütte in den Bergen flieht. Aber ob sie dort Hilfe findet? Sicher das Repetiergewehr, das ihr der Vater einmal gezeigt hat. Wer im Gebirge leben muss, kann ganz böse daran krepieren. Allerdings weniger an den Gipfeln als an der Gesellschaft. Ein Leseerlebnis wie eine happige Bergtour.
„Hast du den Bergkoller?“
Fragt der Einheimische Noldi den halb Zugezogenen Al von Rickenbach im Roman „Reduit“ von David Weber. Der Zürcher Architekt versucht mit wenig Überzeugung in Wassen einen Bereich des ehemaligen Reduits zu kaufen, der im Zweiten Weltkrieg von der Schweizer Armee als Rückzugsort genutzt wurde. Dort sollen bombensichere Rückzugsplätze für kaufkräftige Ausländer geschaffen werden. Die Dorfbevölkerung versucht, aus dem Vorhaben Profit zu schlagen, stellt sich aber gleichzeitig dagegen. Einzig die kubanische Kellnerin Lisa unterstützt Al in der Hoffnung, aus ihrer Knechtschaft freizukommen. Al jedoch verstrickt sich immer mehr „in ein Netz aus unkontrollierbaren Emotionen, moralischen Zweifeln und frustrierenden Sachzwängen. Viel zu spät realisiert er, dass der Berg ein dunkles Geheimnis birgt“ (Klappentext). Welches, sei nicht verraten. Selber herausfinden, auch wenn sich bei der Lesetour ab und zu Koller einstellt.
„Plusieurs alpinistes arrivent au camp de base. Ils confirment que Matthieu était le dernier à atteindre le sommet aujourd’hui. (…) Le nombre de summiters ne sera par mirobolant cette année.“
Was mirobolant auf Deutsch heisst, musste ich nachschlagen: phantastisch. Bestens plaziert an dieser Stelle. Denn bei „année“ hat die Autorin Mélanie Valier diese Fussnote hingesetzt: „En réalité, il n’y a pas eu de summiters en 2016 au K2.“ Voilà! Ein Bergroman muss nicht Wort für Wort und Jahr für Jahr der Realität entsprechen. Soviel ich weiss, ist noch niemand mit dem Snowboard vom zweihöchsten Berg der Welt runtergekurvt. Der Chamoniarde Matthieu Charraz aber schafft es in „Reprends ton souffle“, auch wenn er nur ganz, ganz knapp den Atem wiederfindet. Eigentlich hätte er gar nicht aufsteigen sollen, doch es gab eine Verwechslung beim Funkspruch, gewollt oder ungewollt. Mit am Berg (und im Bett) ist schon wie in Valiers Erstling „Et si tout s‘arrêtait là?“ die amerikanische Soziologiestudentin Emma Lindley. Nun sind wir gespannt auf die Fortsetzung ihrer Liebesgeschichte.
„,Tu vois, Edi, j’ai réussi‘, sagte Chavez und lächelte leicht, sein Blick war von innerem Strahlen erfüllt.
Edi trat ans Bett und lächelte ihm ebenfalls zu. Er seufzte. So schlimm konnte es also nicht sein.“
Begegnung zwischen Geo Chavez aus Paris und dem Briger Bergbauernbub Edi im Spital von Domodossola, kurz nachdem der peruanisch-französische Luftfahrtpionier am 23. September 1910 mit seinem Eindecker Blériot XI von Ried bei Brig den Simplon und somit erstmals den Alpenhauptkamm überflogen hat. Bei der Landung allerdings brach das Flugzeug auseinander, Chavez verletzte sich schwer beim Sturz aus zehn bis zwanzig Metern und starb am 27. September. Mit „Über den Simplon“ erzählt Mirjam Britsch noch einmal diese Pioniertat, bringt aber mit der Begegnung zwischen dem Helden und seinem Bewunderer Edi noch eine andere, rührende Geschichte zum Tragen. Der aus armen Verhältnissen stammende Edi ist fasziniert von den Flugapparaten. Hautnah erlebt er in Ried-Brig die von zahlreichen Touristen besuchten Startversuche mit. Und so wie sich Chavez mutig in die Bergluft aufschwingt, befreit sich Edi aus den dörflichen Machtstrukturen.
In dieser Woche reisen die Bergfreunde zum Simplon. Vom Mittwoch, 6., bis Sonntag, 10. November, findet in der Alpenstadt Brig-Glis das Multimediafestival BergBuchBrig statt. Ein paar Hinweise und Titel für Bergromanleser: „Gommer Herbst“, „Geh, wilder Knochenmann“, „Die Toten von Falein“, „Bel Veder“ und „Rilke erwandern“. Das ganze Programm unter www.bergbuchbrig.ch.
„Schon Tage zuvor nahmst du den Rucksack hervor, die Steigfelle, das Skizzenbuch mit den Notizen von der letzten Bergfahrt.“ (Peter Weibel)
Peter Weibel: Schneewand. edition bücherlese, Luzern 2019, Fr. 26.-
Annette Lory: Meer und Berge. Kommode Verlag, Zürich 2018, Fr. 22.-
Peter Keglevic: Wolfsegg. Penguin Verlag, München 2019, Fr. 32.-
David Weber: Reduit. Knapp Verlag, Olten 2019, Fr. 27.-
Mélanie Valier: Reprends ton souffle. Éditions Glénat, Grenoble 2019, € 20.-
Mirjam Britsch: Über den Simplon. Zytglogge Verlag, Basel 2019, Fr. 34.-