Drei in vieler Hinsicht schwergewichtige Bücher für lockere Mussestunden auf Fahrten über hohe Pässe.
«Ein Steinmann wurde erbaut, jedoch auf dem Schnee, der den Gipfel krönt, so dass er wahrscheinlich wenig dauerhaft sein wird.»
Pech, wenn der Schnee schmilzt. Dann wird der Steinmann wohl auseinanderfallen, und die nachfolgenden Bergsteiger werden den Steinhaufen nicht als ein von früheren Alpinisten errichteten Beweis für eine erfolgreiche Besteigung halten. Vielleicht so passiert auf dem Piz Platta (3392 m) zwischen dem Avers und dem Surses (Oberhalbstein). Die erste bekannte und touristische Besteigung erfolgte am 7. November 1866 durch den Kunstmaler mit dem etwas kunstvollen Namen Étienne-Edmond Martin, Baron de Beurnonville, zusammen mit seinem St. Moritzer Bergführer Stefan Hartmann, einem Hotelier Balzer und dem Verwalter Gadient von Mulegns (Mühlen). Von diesem Ort an der Strasse über den Julierpass (2284 m) bestiegen die vier Männer den Piz Platta in einem Tag. Der Baron verfasste einen Kurzbericht für das vierte „Jahrbuch des Schweizer Alpenclub“ von 1867. Der Redaktor desselben fügte an: „So viel bekannt, ist diess die erste Ersteigung der höchsten Spitze dieses Berges, frühere Erzählungen sind nicht glaubwürdig.“ Im SAC-Führer „Bündner-Alpen, III. Band, Calanca – Misox – Avers“ von 1921 lesen wir aber, dass ein Oberhalbsteiner Jäger schon zuvor hinaufgestiegen ist – vielleicht hat er auch einen Steinmann auf Schnee errichtet…
Wir werden es nie erfahren. Wohl genau so wenig, welcher Balzer denn an jenem kalten Novembertag bei der festgehaltenen Erstbesteigung des „Matterhorn des Oberhalbsteins“ dabei war. War es Johann Balzer, der 1874 nach Buenos Aires auswanderte, wo er das Hotel Continental betrieb? Oder war es sein Bruder Christian Balzer (1839–1912), Hotelpionier in Graubünden, mächtigster Postpferdehalter für die Linie Chur – Julierpass – St. Moritz und vor allem bekannt geworden als Patron des einst berühmten „Post Hotel Löwe“ in Mulegns? Wie auch immer: Die Geschichte dieses Hotels am wichtigsten Zugang ins Engadin hat nun Basil Vollenweider in einem prächtigen Buch verewigt: „Post Hotel Löwe. Von den Anfängen des Tourismus bis zum Ersten Weltkrieg“.
Auf 275 Seiten wird die Geschichte dieser besonderen Station an einer Verkehrsader aufgerollt und ihre Blütezeit festgehalten. Alle von Norden anreisenden Touristen Richtung Engadin mussten im Nadelöhr Mulegns bzw. vor dem „Post Hotel Löwe“ absteigen und oft auch über Nacht bleiben; bis 22‘000 Übernachtungen jährlich wurden verbucht. Mit der Eröffnung des Albula-Eisenbahntunnels 1903 begann der Abstieg – oder, wenn man an den Steinmann auf einem Höhepunkt denkt, das Schmelzen des Schnees unter demselben. Das Buch ist mit vielen historischen Abbildungen illustriert (da und dort wären genauere Legenden erwünscht). Zudem hat Benjamin Hofer auf doppelseitigen Farbfotos den heutigen Zustand dokumentiert. Hoffentlich wird das „Post Hotel Löwe“ bald ein Swiss Historic Hotel. Dann könnte auch der von Christian Balzer angeregte Wanderweg am Tgarnet wieder ganz aktiviert werden.
Ein anderer berühmter Bündner Pass ist der San Bernardino (2067 m) zwischen dem Rheinwald und der Mesolcina. Das handliche Buch „Entdeckungen am San Bernardino“ von Barbara Beer, Marco Buchmann und Marco Marcacci befasst sich mit Natur, Landschaft und Geschichte des Passes und des gleichnamigen Dorfes und schlägt 14 Exkursionen vor, im ganzen Misox und zwischen Passo und Villagio. Die Mischung von trutzigen, mit Steinplatten bedeckten Bauten von einst mit hingeklotzten Beton-Appartment-Hotel-Blocks, angereichert mit romanischer Kapelle und klassizistisch-barocker Rundkirche sowie aufgelockert durch südlich umflorte Berner Oberländer Chalets und lombardisch angehauchte Villen gibt San Bernardino seinen unverwechselbaren Charme. Er wird in der Nachsaison noch gesteigert, wenn die Rollläden heruntergelassen und die Sportläden, Hotels, Pizzerias und Coiffeursalons chiuso sind. Nur die eisenhaltige Mineralheilquelle sprudelt weiterhin, die Laster rauschen fast ununterbrochen zum oder aus dem Autobahntunnel, und im Ristorante „Postiglione“ treffen sich ein paar Einheimische, Soldaten vom Panzerschiessplatz Hinterrhein und hoffentlich jetzt Escursionisti mit diesem Buch im Rucksack.
Und wenn wir schon am Wandern und Lesen im Bündnerland sind: Von Splügen im Rheinwald gelangen wir über den Pass namens Safierberg (2482 m) ins Safiental, ein tief eingeschnittenes, 30 Kilometer langes Tal hinunter zum Vorderrhein. Über den Safierberg haben einst die Walser das Tal bevölkert; ihre Nachkommen – vereint mit Zuzügern – versuchen insbesondere heute ein Auskommen in diesem gleichzeitig unwirtlichen und wildromantischen Gebirgsland. Das Safiental bildet den Schwerpunkt in der wissenschaftlichen Arbeit von Christian Reichel mit dem etwas sperrigen Titel „Mensch – Umwelt – Klimawandel. Globale Herausforderungen und lokale Resilienz im Schweizer Hochgebirge“. Man lasse sich vom Klappentext nicht einschüchtern: „Anhand neuer ethnographischer Daten und partizipativer Kartographie veranschaulicht Christian Reichel, wie der globale Klimawandel Teil einer lokalen Lebenswirklichkeit wird: (Trans-)Lokale Wissensressourcen werden für die Entwicklung von mitigativen und Resilienz fördernden Maßnahmen genutzt, um dynamisch auf neue sozioökonomische Herausforderungen im Kontext destruktiver Mensch-Umwelt-Beziehungen reagieren zu können.“ Im Gespräch mit Einheimischen bleiben die Sätze verständlich. Zum Beispiel dort, wo über Wetterzeichen gesprochen wird. So gibt es Sonnenschein und steigende Temperaturen („Heuwetter“), wenn „Schneefinken oder Alpendohlen abends gegen 17 Uhr Richtung Talende fliegen, dort übernachten und morgens um ca. halb zehn zurückkommen und im Tal bleiben.“
Basil Vollenweider: Post Hotel Löwe. Von den Anfängen des Tourismus bis zum Ersten Weltkrieg. Forschungen zur Geschichte des Post Hotel Löwe in Mulegns. Verlag Nova Fundaziun Origen, Riom 2019. Fr. 54.- www.origen.ch
Barbara Beer, Marco Buchmann und Marco Marcacci: Entdeckungen am San Bernardino. Natur, Landschaft und Geschichte einer Passregion. Hier und Jetzt, Baden 2020. Fr. 39.-
Christian Reichel: Mensch – Umwelt – Klimawandel. Globale Herausforderungen und lokale Resilienz im Schweizer Hochgebirge. Transcript Verlag, Bielefeld 2020. € 40.-