Zwei Zürcher auf der Suche nach verlassenen Alpsiedlungen im südbündnerischen Calancatal. Markus Rottmann und Oliver Gemperle, hauptberuflich im Werbe- und PR-Geschäft, auf dornenvollen Pfaden ins Einst.
„Die letzten Wegspuren hatten wir heute früh schon verlassen, waren dafür durch kniehohes, nasses Gras gewatet, vorbei an schimmligen Pilzen, sind Böschungen hoch, die wir an dicken Baumwurzeln ziehend erklommen. Es gab Tierkot und riesenhaftes Blattwerk und ein Geäst, das uns wieder und wieder zu Umwegen zwang. Ich weiss nicht, wie lange es tatsächlich gedauert hat, bis wir vor diesem Felsabbruch standen – den wir überraschend mühelos bezwangen, da wir nach kurzer, unnützer Hantiererei mit dem Seil von Menschen behauene Stufen entdeckten, eine Art Aufgang, der wohl im Sturm abgebrochen war, nur noch in Brocken sichtbar, diese aber trittfest genug, um das ausgesetzte Felsband zügig zu durchsteigen. Danach verloren wir uns in den Erlen. Kein Ausblick mehr möglich, die Karte gab unsere Position als grüne Fläche an. Der Höhenmesser brachte nur Kopfschütteln, wir wussten nicht, ob wir uns tiefer ins Undurchdringliche hineinkämpften oder ins Freie hinaus. Manchmal war ein Blick auf einen gegenüberliegenden Hang möglich, selten gab es einen Baum, den man hätte besteigen können. Mir kamen Freunde in den Sinn, die eine Expedition in Kirgistan trotz mehrmonatiger Vorbereitung abbrechen mussten, weil an dem noch namenlosen Berg ein breiter Gürtel aus Dornengestrüpp den Zustieg fest umklammerte. Zäh wie Stacheldraht, ein Reisswolf der Natur. Unser Dickicht war zum Glück harmloser und sehr viel jünger. Etwas mehr als ein Menschenleben früher war hier vielleicht eine Weide gewesen, war hier vielleicht schon die Alp, das Häufchen Steine, das wir suchten.“
Und dann fanden. Immer wieder. Trotz aller neu gewachsener Wildnis. Markus Rottmann begleitete den Zürcher Fotografen Oliver Gemperle auf der Suche nach verlassenen Alpsiedlungen im südbündnerischen Calancatal. Die Orte heissen Ciarin Alt, Stabgel, Masciadon, Tec Paolin, Cassiné oder Carnalta. Hören sich irgendwie paradiesisch an. Aber sind es nicht. Waren es nie. Waren karg-perfekte Stein- und Holzbauten in einem karg-grünen, steil-flankigen Tal. Erbaut, um die Kühe zu sömmern, um Käse zu machen, um die Leute zu ernähren. 3000 Menschen lebten einst im Val Calanca. 750 sind noch da. Die meisten Alpen werden nicht mehr gebraucht. Die Hütten werden wieder Geröllhalden, aus deren Steinen sie er–baut wurden. Oder werden vom Wald verschluckt. Zurück zur Natur, Stein für Stein, Balken für Balken. Nicht lautlos, nicht schmerzlos. Bewegung in der Zeit.
Oliver Gemperle hat sie festgehalten. Die Zeit. Die Hütten. Die Landschaft. Die Veränderung. Die alpine Brache. Ein Leben in einem Tal auf der Alpensüdseite der Schweiz. Mit der Kamera festgehalten. Zu jeder Jahreszeit. Mit Sonne, im Nebel. Und nun in Buchform gedruckt. 63 doppelseitige Farbfotos im Format 47 x 37 cm.
Dapc Soran, Pisella, Faeda, Monterisc, Tigela. Oder Artoalla. So ein schöner Name. An einer Mauerecke ist eine weiss-rot-weisse Markierung zu sehen. Ein Wanderweg muss da vorbeigehen. Andiamo! Den Bildband müssen wir aber im Tal unten lassen, für den Rucksack ist er dann doch zu gross.
Oliver Gemperle: Calanca. Verlassene Orte in einem Alpental – Luoghi abbandonati in una valle alpina. Benteli Verlag, Bern 2010, Fr. 78.-