Everest

Näher kommt man dem Mond zu Fuss nicht als auf dem Mount Everest. Ausser vielleicht mit Büchern und Zeitschriften…

– Nous les alpinistes, on désepère de s’échapper vers le haut, vers les sommets… ces fameux sommets… à la tienne…
Georges cogne son verre contre le mien, écrase sa cigarette dans un cendrier en forme de main de femme.
– On peut dire qu’il n’y en a qu’un qui s’est vraiment échappé.
– Qui ?
– Auguste bien sûr !
– Tu veux dire avec l’Everest ?
– Avec l’Everest, exactement.

Gesprächsausschnitt zwischen dem Führeraspiranten Alex, dem Icherzähler im Berg- und Liebesroman „Saskia“ von Guillaume Desmurs, und Georges, einem alten Bergführer, bei dem Alex in Chamonix Unterschlupf gefunden hat. Auguste seinerseits ist der berühmteste Führer von Chamonix, weil ihm 1947 die Erstbesteigung des Everest gelungen ist. Aber war er wirklich der Erste – in diesem Roman? Denn ein paar Zeilen weiter unten im Gespräch übergibt Georges seinem Untermieter das Tourenbuch von Andrew Irvine, dem tatsächlichen möglichen Everest-Erstbesteiger, der am Morgen des 8. Juni 1924 zusammen mit Georges Mallory zum höchsten Gipfel der Welt aufbrach. Ob die beiden ihn erreichten, weiss man nicht. 1999 wurde die Leiche Mallorys auf 8150 Metern gefunden, leider aber keine Beweise für einen Gipfelerfolg. Doch nun hält Alex das Carnet von Irvine in der Hand, darin dieser den Weg auf den Gipfel beschreibt, den Absturz des Gefährten, seinen verzweifelten Abstieg und schliesslich die Rettung ins Kloster Rongbuk. Was für eine Geschichte, die sich Desmurs da ausgedacht hat!

Sein Roman spielt in drei Zeitabschnitten: am 9. und 10. Juni 1999, am 18. Juli 2019 sowie am 14. und 15. September 2039. Im Mittelpunkt immer Alex, seine Liebe und Geliebte Saskia, die Tochter von Auguste. Sowie dieses geheime Everest-Tagebuch von Irvine, das die Geschichte des Alpinismus, die Glorie von Auguste und das Liebesseil zwischen Alex und Saskia zu zerreissen droht und es auch tut. Noch schlimmer ist aber die Umweltkatastrophe in Chamonix, die den Ort unbewohnbar gemacht hat, weshalb er nun ähnlich heisst wie Tschernobyl: „… être dans Chamnobyl, c’est être dans la zone de la mort au-dessus de 8000 mètres d’altitude.“ Fiktion, klar, sehr weit weg. Und doch: Wie Alex und Saskia in diese Todeszone eindringen und sich dann durch die von Alex eingerichtete Kletterroute „Saskia‘s Way“ Richtung Italien retten wollen, ist so atemberaubend wie überzeugend. Ob sie davonkommen, steht in den Sternen, die sie hoch oben in der Wand betrachten, ganz am Schluss des Romans.

Zurück auf sicheren Grund. Allerdings: Hat sich nicht auch George Mallory zur Flucht nach oben gesehnt, zu den Gipfeln, diesen berühmten Gipfeln? Das erfahren wir im Buch „Vers l’Everest“, das Charlie Buffet herausgegeben hat. Alle Schriften von George Mallory sind darin gesammelt: philosophische Texte, Tourenberichte, Briefe an seine Frau Ruth, bis hin zur letzten Nachricht, die einem Sherpa anvertraut wurde. „Bergsteiger lassen keinen emotionalen Unterschied zwischen dem Bergsteigen und der Kunst zu. Sie behaupten, dass etwas Erhabenes das Wesen des Bergsteigens ausmacht. Sie können den Ruf der Gipfel mit einer wunderbaren Melodie vergleichen, und der Vergleich ist nicht lächerlich.“ Und seinen Berg beschrieb er 1921 so: „Eine ungleiche dreieckige Masse tauchte aus der Tiefe auf; ihre Seite verlor sich in den Wolken. Ganz allmählich sahen wir die Flanken eines grossen Berges, seine Gletscher und Grate, mal einen Glanz, mal einen anderen durch die sich bewegenden Scharten hindurch, bis schliesslich, viel höher am Himmel, als es die Phantasie zu erahnen gewagt hatte, der weisse Gipfel des Mount Everest erschien. Es war wie die verrückteste Schöpfung eines Traums.“

32 Jahre später ging er in Erfüllung. „Um 11.30 Uhr des 29. Mai 1953 gingen ein Imker und ein ehemaliger Yak-Hirte schleppend ihre letzten Schritte auf die schneebedeckte Kuppel. Müde und schwer atmend konnten sie einfach nicht mehr weitergehen – es gab nichts, wohin sie noch gehen konnten.“ So beginnt das Buch „Everest. Das Abenteuer von Edmund Hillary und Tenzing Norgay“ mit dem Text von Alexandra Stewart und den Zeichnungen von Joe Todd-Stanton. Klar, die Geschichte der Erstbesteigung des dritten Pols ist nicht neu. Doch so frisch erzählt und frisch gezeichnet ist es durchaus unterhaltend und informativ, nochmals in sie einzutauchen. „Sie hatten das Dach der Welt bestiegen. Zufrieden – und vielleicht ein wenig überrascht – schauten die beiden hinunter auf die Erde. So hoch hatte noch nie ein Mensch vor ihnen gestanden.“

Wir bleiben oben. „Wir gingen um 21.45 Uhr aus dem letzten Hochlager los, etwa auf 8300 Meter, damit wir beim Sonnenaufgang oben sind. Mein Mann und ich waren alleine vorne, wir waren sehr schnell, und als wir nach knapp sechs Stunden oben waren, war es immer noch stockfinster“, erinnert sich Andrea Sherpa-Zimmermann im langen Gespräch mit Fabian Ruch, das in der 14. Ausgabe von „SPORTLERIN. Das Schweizer Frauen-Sportmagazin“ erschien. „Das war fast schon enttäuschend. Wir sahen nichts, wir hätten auch irgendwo im Berner Oberland auf einem Hügel sein können. Aber mein Mann sagte, die Wetterprognosen seien ausgezeichnet, also blieben wir oben, und der Sonnenaufgang war unglaublich, das ist unbeschreiblich.“ Die Rechtsanwältin Andrea Zimmermann, geboren am 18. August 1978 in Biel, heiratete 2015 Norbu Sherpa; im Jahr darauf standen sie ganz oben auf 8848 Meter über Meer. Zusammen führen sie das Touristik-Unternehmen Wild Yak Expeditions. 2016 war „Miss Mount Everest“, so das Frauen-Sportmagazin, die neunte Schweizerin auf dem Everest: „Es gibt immer mehr Frauen, die es wagen, auf eine solche Expedition zu gehen. Sogar einige nepalesische Frauen standen ganz oben, was mich besonders freut.“

Dieser Trend zeigt sich ebenfalls in der Recherche „Restrisiko und Everestrisiko“, die in der Frühlingsausgabe 2024 der Zeitschrift „bergundsteigen. Menschen – Berge – Unsicherheit“ abgedruckt ist: „Nach einhundert Jahren Bergsteigergeschichte am höchsten Berg der Welt häufen sich die Unfälle. Doch langfristig sinkt das Risiko. Und vielleicht bald auch das Interesse.“ Von Letzterem merkt man noch keinen Eiskristall. Im Gegenteil: Hinten im Heft zum Beispiel findet sich unter dem Titel „Die Eroberung des dritten Pols“ ein grosses Interview mit dem 91jährigen Kanchha Sherpa, dem letzten noch lebenden Teilnehmer der gipfelerfolgreichen Expedition von 1953. Auf die Frage, wie er jetzt zurückdenkt an die Expedition, sagte er: „Es war ein magisches Ereignis, das ich nicht erklären kann. Wir Sherpas haben entscheidend zum Erfolge beigetragen, weil wir den Weg bereitet haben. Aber ich frage mich noch immer, wie Hillary und Tenzing den Rest des Weges bis zum Gipfel geschafft haben. Für mich sah es vom Südsattel, wo ich zuletzt gestanden hatte, unmöglich aus.“

Guillaume Desmurs: Saskia. Éditions Guérin, Chamonix 2024. € 21,00
George Mallory: Vers l’Everest. Inédits du célébrissime George Mallory, premier disparu de l’Everest. Traduit de l’anglais par Charlie Buffet. Éditions Guérin, Chamonix 2024. € 25,00.
Alexandra Stewart, Joe Todd-Stanton: Everest. Das Abenteuer von Edmund Hillary und Tenzing Norgay. Vorwort von Ranulph Fiennes. Midas Verlag, Zürich 2023. Fr. 28.-
Andrea Sherpa-Zimmermann. Miss Mount Everest, in: SPORTLERIN. Das Schweizer Frauen-Sportmagazin, N° 14. Fr. 10.-; Jahresabo für 4 Ausgaben Fr. 30.- www.sportlerin-magazin.ch
bergundsteigen. Frühling 2024, #126. Schwerpunktthema: Sucht. www.bergundsteigen.com

Ab in die (Süd-)Schweiz!

Vier neue Schweizer Wanderführer. Nur im Zimmer bleiben ist nicht schöner. Worauf warten wir noch?

«Es ist Zeit, ab mit dir in die Sonnenstube der Schweiz. Wozu hat der Herrgott uns in unserem Land so eine schöne Vierzimmerwohnung eingerichtet? Da, die deutsche Schweiz, das ist die saubere, freundliche, grüne Arbeitsstube, die Westschweiz, das ist unser Salon, prächtig geputzt und glänzend, die romanische Schweiz, das ist das Schlafzimmer, geräumig mit offenem Fenster, durch das die Ruhe und die kühle Bergluft strömen, und das Tessin, dort hinter dem dunklen Gotthardkorridor, das ist das Südzimmer, das Balkonzimmer voller Sonne.»

Sonniger, wenn auch verstaubter Ausschnitt aus dem 1947 erstmals aufgelegten Buch «Piccolina» der fleissigen Kinderbuchautorin Elsa Muschg (1899–1976); ihr Halbbruder ist Adolf Muschg, geboren 1934. Mit vier neuen Wanderführern unter dem Arm bzw. im Rucksack sehen wir uns mal die Vierzimmerwohnung an und beginnen gleich in der Sonnenstube.

Nicola Pfund stellt in «Da un gradino all’altro: Le più belle scalinate del Canton Ticino» vor. Auf 33 Wanderungen nimmt er uns mit zu besonderen Treppen im Sottoceneri (13), im Sopraceneri (18) sowie im Misox (2). Schmugglerpfade, ausgesetzte Alpwege, ein bildstockgeschmückter und gepflästerter Kreuzweg, die Treppen neben Drahtseilbahnen: immer ermöglichen erst von Menschen geschaffene Stufen ein gutes Gehen, auf- und abwärts. Und das gerade mit Tessin mit seinen steilen Flanken. Wegen der schweren Unwettern und Überschwemmungen im Maggiatal und im Misox sind dort zurzeit viele (Treppen-)Wege gesperrt. Aber gerade im Sottoceneri, nicht sehr bekannt und besucht als Wanderland, gibt es viel zu ersteigen. Der mit neuen und alten Fotos bestückte Führer von Pfund hilft bei der Suche nach schweisstreibenden Aufstiegen von Stufe zu Stufe.

Dem dunklen Gotthardkorridor entsteigen wir mit dem „Walserweg Gottardo“ von Peter Krebs. Im Frühling 2024 ist dieser Weg eröffnet worden. Damit wurde erstmals auch das Oberwallis als Ursprungsgebiet der mittelalterlichen Emigration in die Weitwanderung „Grosser Walserweg“ einbezogen; er wird einst alle Walserorte von Frankreich bis Österreich verbinden. Doch jetzt wandern wir mal mit in siebzehn Etappen von Binn via Ossola und Bosco Gurin und Andermatt nach Vals zuhinterst in einem Seitental der Surselva. Wir müssen ja nicht gleich die 270 Kilometer in einem Stück machen, sondern können mit den genauen (wander-)touristischen Angaben auch nur ein paar Tage Gottardo unter die Füsse nehmen. Dank der Hintergrundgeschichten zu Themen wie Alpkäse, Alptourismus und Walsern lohnt sich das Buch ebenfalls zur Heimlektüre. Doch wenn man die tollen Fotos anschaut, möchte man gleich losziehen. Für den Rucksack ist das Buch etwas gar schwer; das Beiheft passt hingegen gut hinein.

Wir bleiben noch in der südlichen Schweiz. Und wandern mit Bernd Jung und Iris Kürschner luftig über Gipfel und Grate vom Wallis durchs Tessin nach Graubünden, dabei immer so hoch oben wie möglich bleibend. Mit grossartigen Fotos, genauen Wegbeschreibungen und klaren Karten stellt das bekannte Führerduo in «Gratwandern Südschweiz» 60 Tages- und Mehrtagestouren vor. Die kürzeste dauert knapp drei Stunden, die Via Alta della Verzasca fünf Tage. 32 Touren sind blau (bis T3), 12 rot (T4) und 19 schwarz (T5 und T6). Ob grasig und breit oder felsig und schmal, ob mit oder ohne Klettereinlage: genussvolle oder spektakuläre Tief- und Weitblicke sind bei allen Wanderungen sicher, vom Grammont überm Genfersee bis zum Munt Pers überm Morteratschgletscher. GPS-Daten können heruntergeladen werden, aber eigentlich braucht es sie nicht: Einfach dem Kamm folgen, auch wenn es schwierig wird.

Nun haben wir die Vierzimmerwohnung ausführlich erkundet, uns mit dem dritten Führer auch schon etwas im Salon umgesehen. Aber dort tagelang unterwegs sein können wir mit diesem Buch hier: «Légendes de la Gruyère et du Pays-d’Enhaut. 100 récits et 30 itinéraires pédestres» von Jacques Rime. Der Autor, ein katholischer Pfarrer, ist ein erstrangiger Kenner des Greyerzerlands mit seiner (berg-)religiösen Geschichte und seinen legendenhaften Erzählungen. Er hat 2021 die Habilitation «Le baptême de la montagne. Préalpes fribourgoises et construction religieuse du territoire (XVIIe-XXe siècles)» publiziert – das genauste regionale Porträt einer Berglandschaft von der religiös-spirituellen Seite. Leichter lesbar und vor allem vor Ort nachvollziehbar ist sein neues Buch mit Legenden und Wanderungen in seiner Heimat. Wir kommen da an einigen Chalets vorbei, in deren Küchen – diese hat Elsa Muschg in ihrem Wohnungsvergleich irgendwie vergessen – der vielleicht berühmteste Käse der Schweiz hergestellt wird.

Nicola Pfund: Da un gradino all’altro: Le più belle scalinate del Canton Ticino. Fontana Edizioni, Pragassona 2023. Fr. 39.-
Peter Krebs: Walserweg Gottardo. Oberwallis, Val Formazza, Tessin, Gotthard und Surselva. Inkl. Beiheft mit allen Informationen zu den 17 Etappen. AS Verlag, Zürich 2024. Fr. 39.-
Bernd Jung, Iris Kürschner: Gratwandern Südschweiz. 60 Touren im Wallis, Tessin und Graubünden. Rother Bergverlag, München 2024. Fr. 41.90.
Jacques Rime : Légendes de la Gruyère et du Pays-d’Enhaut. 100 récits et 30 itinéraires pédestres. Éditions Cabédita, Bière 2024. Fr. 32.-

Regarder le glacier s’en aller

Die dezentrale Ausstellung «Schau, wie der Gletscher schwindet» findet schweizweit vom 29. Juni bis zum 29. September 2024 statt. Auf der Reise zu 17 Orten kann eine Zeitschrift gelesen werden. Ein Buch zur Fotogeschichte der Gletscher ebenfalls.

j’ai voulu voir Aletsch et j’ai pas vu Aletsch
j’ai voulu voir Ferpècle et j’ai pas vu Ferpècle
j’ai voulu voir Arpette et j’ai pas vu Arpette

tout a fondu
tout est descendu
c’est foutu

Moiry c’est fini
Orny c’est fini 

tout a fondu
tout est descendu
c’est foutu

que c’est triste Tschierva
que c’est triste Gébroulaz

tout a fondu
tout est descendu
c’est foutu

Beginn des Gedichtes «J’ai voulu voir Aletsch» der Westschweizer Dichterin Béatrice Monnard; sie lebt im Unterwallis oberhalb von Monthey. Das Gedicht findet sich in der Sommerausgabe der Vierteljahreszeitschrift «la couleur des jours». Sie widmet sich der über die ganze Schweiz verteilten Kunstausstellung «Schau, wie der Gletscher schwindet», die noch bis zum 29. September läuft. In zwei Faszikeln der Zeitschrift finden sich grossartige, oft unbekannte, ja teils ganz frische Prosatexte und Gedichte in Französisch, Deutsch, Italienisch und Bärndütsch zum Schwinden und Verschwinden der Gletscher, illustriert mit starken alten und neuen Ansichten des nicht so ewigen Eises in den Alpen.

Gestern war ich in der Ausstellung «Glaciers. Un monde en mouvement» im Musée historique Lausanne. Gletscher bedecken 3% der Gesamtfläche der Schweiz. Das mittelfristige Verschwinden der meisten von ihnen zeugt vom Gewicht des menschlichen Einflusses auf die Umwelt und von der Verletzlichkeit dieser Eiskolosse. Mithilfe von Installationen, Bild- und Tonaufnahmen sowie interaktiven Geräten stellt die Ausstellung den organischen Charakter dieser faszinierenden und sich ständig bewegenden Körper in den Mittelpunkt. Besonders eindrücklich fand ich die Videoinstallation der Walliserin Laurence Bonvin. Man sitzt in einem leeren, verdunkelten und warmen mittelalterlichen Saal, und vorne auf der Leinwand sieht man das Eis des grössten Alpengletschers schmelzen, wobei sich die Aufnahmen überlagern, mit den passenden Geräuschen dazu. Man ist sozusagen im Aletschgletscher drin, schaut und hört seinem Schmelzen zu; eigentlich wäre es ja kalt dort, aber man sitzt an der Wärme, weil es ja immer wärmer wird.

Unter dem Titel «Aletsch au féminin» widmet Claude Reichler der Fotografin und Filmerin Laurence Bonvin ein Kapitel in seinem neuen Buch «Les glaciers des Alpes et la photographie. Dans la lumière de leur disparition». Der Forscher, Schriftsteller und Honorarprofessor an der Universität Lausanne schlägt einen Bogen zwischen den alten Gemälden und Fotos, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Pracht der Alpengletscher verherrlichten, zu den Fotografien von heute, die im Zeitalter des Anthropozän, in dem die Gletscher verschwinden, aufgenommen wurden. Reichler zeigt, wie die Fotografen und Fotografinnen ganz unterschiedlich, aber immer so intensiv wie überzeugend, in ihren Werken der traurigen Wirklichkeit begegnen, die das Alpeneis zum Verschwinden bringt.

Andere Schaffende tun dies mit Worten. Wie eben Béatrice Monnard. Die Schlusszeilen ihres Gedichtes ««J’ai voulu voir Aletsch» lauten so; damit man die bittere Ironie sofort begreift – «clim» heisst Klimaanlage und «monter» hat hier nicht die Bedeutung von «hochsteigen», sondern von «hochfahren»:

chaud chaud
morte la Plaine Morte
mort le Morteratsch
sec le Pra Sec

je n’irai pas plus haut
je n’irai pas à Giétroz

je resterai en bas
je monterai la clim
et je sucerai des glaces à l’eau.

La couleur des jours. N° 51, été 2024: Écrire avec les glaciers; regarder le glacier s’en aller. Fr. 9.-  Im Musée historique Lausanne lag die Zeitschrift zum Mitnehmen auf. www.lacouleurdesjours.ch
Claude Reichler: Les glaciers des Alpes et la photographie. Dans la lumière de leur disparition. Presses universitaires de Rennes, Rennes 2024. € 24,90.

Schau, wie der Gletscher schwindet: https://artforglaciers.ch/de/
J’ai voulu voir Aletsch: https://beatricemonnard.ch/
Aletschgletscher: https://laurencebonvin.com/aletsch-negative/

70 Jahre Erstbesteigung K2

Der schwierigste aller Achttausender liegt in Pakistan und zieht Alpinistinnen und Buchautoren magisch an.

«Die Geschichte der Erstbesteigung des K2 stünde heute in einem wirklich überwältigenden Licht und als herausragende Expedition da, wenn man die Leistung von Erich Abram, dem Hunza-Träger Amir Mehdi und allen voran von Walter Bonatti schon früher richtig eingeordnet und entsprechend gewürdigt hätte. 2015 sagte Erich Abram zu mir, als die Sauerstoffflaschen einmal oben gewesen seien, sei es nur noch um die heldenhafte Besteigung des Gipfels gegangen und nicht mehr um den beispiellosen Einsatz der anderen. Die ganze Wahrheit hätte diese Geschichte sicher noch viel großartiger gemacht. Diese Wahrheit hätte die anerkennenswerte Leistung von Lacedelli und Compagnoni um keinen Deut geschmälert. Die ganz große Leistung bei der Erstbesteigung des K2 – das ist wohl inzwischen klar – war nicht allein diese Erstbesteigung, es war noch viel mehr der mühevolle Nachschub zum höchstgelegenen Lager.»

Mehr noch, und auch das schreibt Hans Kammerlander in seinem Kommentar zur skandalüberschatteten Erstbesteigung im Buch «K2. Der härteste Berg der Welt. Triumphe, Tragödien und Kontroversen», das er zusammen mit Walther Lücker verfasst hat: «Auf mich wirkt das unkollegial und im Grunde rücksichtslos. Die beiden wollten kompromisslos zum Gipfel. Deshalb haben sie gesagt, die beiden da unten sollten absteigen.» Was war passiert? Seit 1890 hatten Alpinisten immer wieder versucht, den K2, den zweithöchsten Gipfel (8611 m) der Erde, zu besteigen. Der grossen italienischen Expedition von 1954 gelang es schliesslich am 31. Juli 1954, allerdings nur mit Schmerzen. Es war vereinbart worden, dass Bonatti und Mehdi Sauerstoffflaschen in ein Zeltlager auf 8100 Meter Höhe bringen sollten. Als die beiden am 30. Juli an der vereinbarten Stelle ankamen, mussten sie feststellen, dass Achille Compagnoni und Lino Lacedelli das vereinbarte Zeltlager unabgesprochen verlegt hatten, so dass es für sie unerreichbar geworden war. Vermutlich fürchtete Compagnoni, dass der jüngere und fittere Bonatti ihm bei der Gipfelbesteigung den Ruhm hätte streitig machen können. Da es bereits Abend war, war ein Abstieg nicht mehr möglich. Bonatti und Mehdi mussten daher in 8100 Metern Höhe ohne Zelt biwakieren. Insbesondere Mehdi zog sich aufgrund seiner unzureichenden Bekleidung schwere Erfrierungen zu. Sie stiegen am folgenden Tag ab, ohne auf dem Gipfel gewesen zu sein. Dabei liessen sie die Sauerstoffflaschen zurück, die ihre Kollegen anschliessend dankbar nutzten. So weit, so schlecht. Schlimmer war allerdings noch, dass Bonatti des Fehlverhaltens bezichtigt wurde. Über vierzig Jahre kämpfte er dagegen, bis er schliesslich auch offiziell recht bekam.

Diese traurige Geschichte bei der Erstbesteigung des K2 ist natürlich nicht neu. Aber grosse Triumphe und Tragödien sind halt immer wieder spannend zu lesen. Und die Nummer 2 der Berge der Welt ist voll davon (die Nummer 1 selbstverständlich ebenfalls). Die letzte Tragödie passierte am 27. Juli 2023: Der 27 Jahre alte pakistanische Träger Mohammed Hassan stürzte in etwa 8300 Metern in einer Engstelle, blieb hilflos in den Seilen hängen – doch weder sein eigenes Team, der pakistanischen Expeditionsausrüster Lela Peak, noch andere Teams unternahmen ernsthafte Rettungsversuche. An diesem Tag waren mehrere Expeditionen mit rund 200 Bergsportlern am Berg unterwegs. Insofern passt der Untertitel im jüngsten Buch zum K2 – leider.

Aber mit einer schöneren Meldung aus diesem Buch soll das heutige Jubiläum gefeiert werden. Am 22. Juli 2001 stand Hans Kammerlander, der Südtiroler Extrembergsteiger und -skifahrer, selbst auf dem Gipfel des K2: «Als ich endlich ganz oben stand, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Ich dachte: Und jetzt? Was kommt jetzt? Was könnte nach dem K2 denn noch sein? Wie sollte ich mehr erreichen als den Gipfel des schwierigsten aller Achttausender? 8.611 Meter am härtesten Berg der Erde. Da gibt es keine Steigerung mehr. Diese Gedanken vermischten sich da oben mit dem unbeschreiblichen Glücksgefühl, das ich dort empfand. Sofort nach dem Glücksmoment machte sich auch Erleichterung in mir breit. Erleichterung, dass es endlich vorbei war. All die Strapazen der vergangenen drei Tage. Der Sauerstoffmangel, die enorme Steilheit an diesem Berg, das Ausgesetztsein, die Einsamkeit. (…) Mir kam der Weg zu diesem Gipfel auf einmal so unendlich weit vor. Wie im Zeitraffer schossen Sequenzen dieses Weges mitten in meine Gedanken hinein. Der Bauernhof daheim, mein erster Gipfel, die ersten Achttausender, dann immer mehr Expeditionen, dramatische Erlebnisse, über 3500 Klettertouren, so viele Erstbegehungen, so viele Soloklettereien. Und nun der Gipfel des K2. Ich war angekommen. Endlich dort, wo ich schon so lange hinwollte. Und jetzt?»

Hans Kammerlander, Walther Lücker: K2 Der härteste Berg der Welt. Triumphe, Tragödien und Kontroversen. Benevento Verlag, Wals bei Salzburg 2023. € 28,00.

Aufstieg und Absturz – Loretan, Terray, Ondra und Steck

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«Antarktis 95. 11.12. Die Gegend ist sehr schön. Es sieht aus wie bei uns in der Gruyère. 24.12. Wir sind gegen 0.15 Uhr wieder im Lager. Es ist Weihnachten. Wir essen Spaghetti und Panettone. 29.12. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, mit der Angst umzugehen, die mich vor grossen Expeditionen quält. Heute ist mir wirklich bewusst geworden, wie bizarr das Bergsteigen ist. Als ich in dieser riesigen Wand war, stellte ich mir die Frage nach dem Warum. Welchen Sinn hatte es, allein in eine solche Wand zu gehen, mit dem einzigen Ziel, den Gipfel zu erreichen?»

Der Freiburger Erhard Loretan, geboren am 28. April 1959 in Bulle, abgestürzt am 28. April 2011 am Gross Grünhorn, war nicht der erste (Spitzen-)Alpinist, der die Sinnfrage seines Tuns stellte. Aber so eindrücklich und so hautnah wie jetzt konnten wir noch selten dem extremen Bergsteigen mit seinen Zweifeln, Risiken und Glücksgefühlen über die Schultergurten des Rucksacks schauen. Denn: Das ALPS, der Alpine Museum der Schweiz in Bern, zeigt erstmals Kostbarkeiten aus dem Nachlass von Loretan der Öffentlichkeit. Nach seinem Tod schenkte die Familie Loretan 2014 den alpinistischen Nachlass dem ALPS, wo er seit 2022 kontinuierlich erschlossen wird. Die neue Biwak-Ausstellung «Am Limit. Auf Expedition mit Erhard Loretan» führt das Publikum durch verschiedene Stationen, wie sie Alpinisten immer wieder erleben wollen und müssen: «Auf dem Weg», «Im Zelt», «In der Wand» und «Zu Hause». Dabei kommt Loretan mit seinen Fotos und Tourenbüchern, seinen Film- und Audioaufnahmen selbst zu Wort. Wie bereitete sich der Ausnahmebergsteiger vor (er stand als dritter Alpinist auf allen 14 Achttausendern), wie überstand er die langweiligen Tage im Basislager (da hatte er mehr als Zeit genug zum Schreiben und Lesen), wie plagten ihn Fragen nach dem Tun und dem Weg in steiler Wand? Antworten finden wir rechts und links, oben und unten und überall im Biwak am Helvetiaplatz. Diesmal ist es mehr ein Basislager mit all dem Material, das uns präsentiert wird. Am Berg und am Limit war Loretan mit der minimalsten Ausrüstung unterwegs. Wie am namenlosen, rund 4600 Meter hohen Gipfel in der Antarktis, den er am 28. Dezember 1995 als erster Mensch erreichte. Heute heisst dieser Berg inoffiziell Mount Loretan.

Wir bleiben bei den Fragen und Antworten. Und finden beides in einem der sinnigsten Bergbücher, das in den letzten Monaten in meinem Rucksack steckte bzw. auf dem Sofatischchen wartete: «Le Montagnard. Dans les pas de Lionel Terray» des französischen Extrem- und Expeditionsbergsteigers Lionel Daudet. Zweimal Lionel? Das will der noch lebende begreifen. Denn: Seine Eltern tauften ihn so, zu Ehren des grossen Terray, Zweitdurchsteiger der Eigernordwand, Erstbesteiger des Makalu (8485 m), des Jannu und des Cerro Chaltén in Patagonien, abgestürzt zusammen mit Marc Martinetti in den Ausstiegsseillängen der Fissure en Arc de Cercle des Gerbier im Vercors am 19. September 1965. Exakt diese Route wiederholte nun Lionel Daudet (Jahrgang 1968) mit seinem Freund Patrick Seillänge für Seillänge: zuerst immer ein paar Zeilen zur Route und zur Art, wie sie an diesem sonnigen Septembertag hochkletterten, darauf immer passend ein paar Seiten zu dem am 25. Juli 1921 geborenen Lionel Terray, seinem Leben und seinen Exploits, zum Alpinismus und Klettern ganz allgemein. Und dann, hoch oben, wo die grossen Schwierigkeiten vorbei sind, will Daudet herausfinden, warum die beiden Kletterer vor knapp 60 Jahren abstürzten, was ihnen wohl zum Verhängnis wurde. Er findet überzeugende Antworten. Zum Sinn des Bergsteigens übrigens auch. Was seinem Namensvetter 1961 mit «Les conquérants de l’inutile» ebenfalls gelungen ist, heute ein Klassiker der Bergliteratur. «Le Montagnard» könnte es auch werden.

Wir sind noch nicht ganz auf dem Gipfel. Jetzt die Konzentration voll beibehalten. Wie dies ein Kletterer immer wieder vorführt. Einer der besten der Welt. Der Tscheche Adam Ondra, Jahrgang 1993. «Adam. The Climber» heisst das Buch ganz simpel, das der italienische Spitzenkletterer Pietro Dal Pra zusammen mit seinem Schützling geschrieben hat und das nun auch in deutscher und englischer Ausgabe vorliegt. So schwierige Routen wie Ondra schaffen nur ganz wenige andere Kletterer, wenn überhaupt. Wer sich nun fragt, wie das möglich ist, erhält hier Antworten, nicht immer locker lesbare, weil es halt nicht leicht ist, sich vorzustellen, was nun in den Fingerspitzen, Nervenzellen und Gedankenblitzen alles in Sekunden abläuft, wenn man schier kopfüber an der überhängenden Wand hängt und der nächste Griff nur millimeterklein ist. Manchmal hängt auch die Sprache ein wenig durch, die Bildauswahl ebenso, mehr Jahreszahlen wären dienlich, eine Chronik zum Schluss würde helfen, Adams wirklich atemberaubende Karriere im Fels wie an der Hallenwand besser zu verstehen. Wie auch immer: Die letzte Seite in meinem Exemplar ist vollgekritzelt mit Notizen, beim Daudet ebenfalls.

Und auch in diesem Buch hier, zwei Seiten sogar. Es ist im Gegensatz zu den beiden andern – und in diesem Sinne auch zur Loretan-Ausstellung – kein Sachbuch, sondern ein Roman. Das steht jedenfalls unter «Der Sherpa, du und ich». Der Sherpa ist einer, mit dem das «Du», nämlich Ueli Steck (1976–2017), befreundet war; das «Ich» ist der Schweizer Filmer Armin Biehler, geboren 1963. In seinem ersten Roman hat er sich auf die Spuren von Ueli gemacht, nach dessen Tod, und nicht eben verständnisvoll, wie die Reaktionen von Befragten zeigen. Auch das kommt im Buch zur Sprache, und vieles mehr, kreuz und quer. Kurz: eine Wühlarbeit am Wandfuss ohne Antworten. Aber vielleicht waren die Fragen schon falsch. Deshalb zurück zu den Fakten.

«Liebe Freunde von Ueli. Heute jährt sich Ueli’s Todestag zum siebten Mal und es scheint mir ein guter Moment, nicht über den Verlust, sondern über das Weitergehen zu reden», schrieb Nicole Steck am 30. April 2024. Ziel sei es, etwas vom materiellen und ideellen Erbe Stecks an die lokale Klettergemeinschaft zurückzugeben. Der Bau der Kletterhalle «Orbit» in Interlaken mache grosse Fortschritte, auf Anfang 2025 sei die Eröffnung geplant. Und: «Zusätzlich beabsichtige ich, den Nachlass von Ueli an das Alpine Museum der Schweiz zu übergeben. Ueli hat die Entwicklung des Alpinismus geprägt. Indem er Grenzen verschoben hat, bereitete er den Boden für weitere Entwicklungen und inspiriert zukünftige Generationen von Bergsteiger/innen. Mit der Übergabe an das Alpine Museum möchte ich sicherstellen, dass sein Nachlass in guten Händen ist, sauber dokumentiert, archiviert und so zukünftigen Generationen zugänglich gemacht wird – so, dass auch daraus Neues entstehen kann!» Wir freuen uns schon jetzt auf die Biwak-Ausstellung mit Ueli Steck.

Lionel Daudet. Le Montagnard. Dans les pas de Lionel Terray. Éditions Stock, Paris 2023. € 20,90.
Pietro Dal Pra, Adam Ondra: Adam. The Climber. Versante Sud Edizioni, Milano 2024. € 25,00.
Armin Biehler: Der Sherpa, du und ich. Roman. Zytglogge Verlag, Basel 2023. Fr. 32.-
Jean Ammann, Erhard Loretan: Erhard Loretan. Den Bergen verfallen. Paulusverlag, Freiburg 1996. Im ALPS erhältlich für Fr. 10.-

«Am Limit. Auf Expedition mit Erhard Loretan»: Ausstellung im ALPS Alpines Museum der Schweiz (bis 16.3.2025) https://alps.museum/ausstellungen/am-limit

Über die Alpen

Zwei neue Bücher über Schweizer Alpenübergänge. Zuerst lesen, dann laufen. Viel Spass am Pass!

«Zwar gehören die Zeiten, als man vom Anblick der Alpen überwältigt wurde und in romantische Verzückung verfiel, längst zur Vergangenheit – zu vertraut sind uns zwei Jahrhunderte später die Berge geworden, zu normal der Gang durchs Gebirge. Doch still genießen und ein bisschen staunen geht noch immer. Auch am wichtigsten Pass des alpinsten Tals der Schweiz.»

Und das ist bzw. sind? Leventina und Gotthard? Rheinwald und Splügen? Linthtal und Klausen? Dreimal nein! Sondern Rhonetal und Simplon. Nirgends sonst in der Schweiz als im Wallis geht es vom Talboden rechts und links so hoch hinauf, und von all seinen Pässen ist der Passo del Sempione geopolitisch gesehen der wichtigste, dicht gefolgt vom Col du Grand-Saint-Bernard. Alle fünf erwähnten Übergänge finden sich in einem druckfrisch aufliegenden Buch.

Ein Buch über das, wofür die Schweiz auch bekannt ist: Pässe. Col du Sanetsch, Passo de Bernina, dazwischen der berühmteste, der Passo del Gottardo. Und weiter gen Süden der tiefste Alpenpass überhaupt, der Monte Ceneri (556 m). Beide Pässe liegen an der Strecke Zürich-Milano. Der Fotograf und Autor Marco Volken kam 1965 in jener Stadt auf die Welt und lebt nun in dieser hierzulande. «Über die Alpen. Große und kleine Pässe zu Fuß entdecken» heisst sein jüngstes Buch. Es stellt 15 Pässe in und am Rande der Schweiz vor und ist eine Seite für Seite überzeugende Mischung aus Kulturführer, Bildband, Geschichtensammlung und Wanderanleitung. Sankt Luzisteig oder Schwägalp, Ibergeregg oder Grosse Scheidegg zu Fuss und nicht mit dem Velo oder gar Auto: Da staunt und geniesst man, da erweitert sich der Horizont Schritt für Schritt, wenn man den Volken gelesen hat, allerspätestens bei der Anreise. Dass er ein besonderes Auge dafür hat, was ein Weg von einem Tal ins andere ausmachen kann, hat er ja mit dem genialen Bildband «Wintersperre – Trève hivernale – Passi solitari» (2020) zu neun Pässen in den Alpen und im Jura schon einmal gezeigt. Kurz: Volken und Pässe, das passt!

Wenn wir schon am Passwandern und -lesen sind, dann sei noch gleich auf ein zweites Buch verwiesen, auf «Panixer Pass Pigniu. Ein Verkehrsweg als Angelpunkt in der Wirtschafts- und Kulturgeschichte zwischen Glarus und der Surselva» von Susanne Peter-Kubli. Die reichhaltig vor allem mit historischen Abbildungen illustrierte Publikation beleuchtet den Fussgängerpass (2407 m) zwischen Elm und Pigniu bzw. Ilanz unten im Vorderrheintal von ganz verschiedenen Seiten: von der Sömmerung und vom Heiraten über den Berg, vom Welschlandhandel und Pilgerwesen, von den Schutzhütten und vom verlustreichen Feldzug von Suworow anno 1799. «Passübergänge gibt es im Glarnerland gleich mehrere und auf drei Seiten», schreibt die 1963 in Netstal geborene Autorin. «Doch war der Panixerpass bis zum Bau der Klausenpassstrasse vermutlich der am meisten begangene.» Wir begehen grad beide mit Marco und Susanne, an einem verlängerten Wochenende in diesem Sommer. Viel Spass am Pass!

Marco Volken: Über die Alpen. Große und kleine Pässe zu Fuß entdecken. Rotpunktverlag, Zürich 2024. Fr. 49.-

Susanne Peter-Kubli: Panixer Pass Pigniu. Ein Verkehrsweg als Angelpunkt in der Wirtschafts- und Kulturgeschichte zwischen Glarus und der Surselva. Eine Publikation des Institutes für Kulturforschung Graubünden. AS Verlag, Zürich 2024. Fr. 49.-

Refugien am Berg

Sie sind besondere Orte, an denen sich hochalpine Geheimnistuereien abspielen können. Orte des Durchgangs, des Aufbruchs und der Rückkehr: die Berghütten.

«C’est une belle journée que celle de ce 23 août 1955 à la Charpoua. Sur la photo, quatre hommes qui rient autour d’une table, du pain, des victuailles, des bouteilles. Visiblement, on n’est pas dans la concentration d’une vieille de course, cela ressemble plutôt à la célébration d’un retour.»

Und was für eine Rückkehr gab es an diesem Dienstag im Refuge de la Charpoua (2841 m) hoch oberhalb des Mer de Glace und tief unterhalb der Aiguille du Petit Dru zu feiern! Der Italiener Walter Bonatti hatte seine sechstägige Odyssee durch die senkrechten Granitfluchten des Südwestpfeilers der Petit Dru vom 17. bis 22. August 1955 überstanden, mit teils halsbrecherischen Methoden wie Seilwurf. Eine Soloerstbegehung an einem mythischen Gipfel ob Chamonix, die selbst zum Mythos wurde. Seither galt der Bonatti-Pfeiler als Testpiece für Topkletterer, wie der Walker-Pfeiler an den Grandes Jorasses oder die Heckmair-Route durch die Eigernordwand. Nach dem grossen Bergsturz vom 18. September 1997 und weiteren in den Folgejahren sind mehrere Westwandrouten, einschließlich des Bonatti-Pfeilers, arg in Mitleidenschaft gezogen. Die klassische Westwandroute hatte Lucien Bérardini zusammen mit drei Mitkletterern in zwei Etappen vom 1. bis 5. und vom 17. bis 19. Juli 1952 eröffnet. Auf dem oben erwähnten Foto sitzt Lucien, genannt Lulu, links, lachend in einem gestreiftem Leibchen, eine Zigarette im Mundwinkel – mehr ein Fahrer zur See als einer am Berg; neben ihm sitzt Walter Bonatti, fröhlich lachend wie die gesamte Runde in diesem berühmten Refugium im Hochgebirge. Das legendäre Hüttenfoto schoss Gérard Géry für den „Paris Match“. Es ist gross abgebildet in „Une histoire des refuges de montagne“ von Hervé Bodeau.

Das sehr schön illustrierte Buch aus der Glénat-Reihe „Une histoire de…“ beginnt mit den ersten Übernachtungsgebäuden in den Alpen wie die Kloster, zum Beispiel auf dem Col du Grand Saint-Bernard, und setzt Balken auf Balken bis zum Alpine Shelter de Skuta in Slowenien, das einer Kapelle gleicht und wohl auch eine ist. Es gibt ja beides in einem Gebäude, wie das Oratorio e Rifugio di Sant’Anna am Monte Gambarogno im Tessin. „Il n’y a pas de montagne sans refuge“, behauptet Hervé Bodeau. Gibt es aber durchaus. In den kalifornischen Gebirgen zum Beispiel sind Hütten nur ganz vereinzelt zu finden, wenn überhaupt. Was es dafür nicht oder kaum gibt, sind Bücher ohne Fehler. „Une histoire des refuges“ macht keine Ausnahme. Die Chronik der Hütten am Matterhorn stimmt nur halb, der belgische König Leopold I. war (zum Glück) nicht der Vater von Albert I., dem Roi Alpiniste, sondern der Onkel, und Ötzi wurde nicht in der Nähe der Grenze Italien-Schweiz gefunden. Wir Schweizer warten immer noch auf den Schnidi; am Schnidejoch fand man Gegenstände von Leuten, die zur Steinzeit über diesen Pass im Wildhornmassiv vom Berner Oberland ins Wallis wanderten, aber bisher einfach noch keine Leiche…

Zur Wildhornhütte führt uns Heidi Schwaiger in „Erlebnis SAC-Hütten. Bergabenteuer für Familien“. Sie präsentiert 35 (Wochenend)-Touren aus den Alpen und dem Jura, clever geordnet nach diversen Erlebnissen wie Klettersteigen, Bergseebaden oder Mountainbiken. Die Wanderung zu Wildhorn- und Geltenhütte – beide gehören dem Schweizer Alpen-Club – wird unter Hüttentrekking gebucht. Zum Bivouac du Dolent-La Maya CAS (2667 m) geht es hingegen mit dem Abenteuer „Spartanisch“ in unbewarteten Hütten. Hat man eine solche für sich alleine, ist es eine tolle Erfahrung; wenn man sie schon voll belegt vorfindet oder wenn abends plötzlich noch eine durchnässte Vierergruppe auftaucht, ist es ebenfalls eine… Das Dolent-Biwak im schweizerischen Teil des Montblanc-Massivs liegt nur 8,8 km Luftlinie vom Refuge de la Charpoua entfernt.

Ähnlich nah liegen die Cabane de Saleinaz CAS und die Gîte de la Léchère; beide Unterkünfte sind im Val Ferret zu finden. Und in der 16. Auflage des beliebten „Berg-Beizli-Führer“ von Richi Spillmann mit insgesamt 1253 Petites auberges de montagne. 44 neue Ristoranti di montagna wurden aufgenommen: zwanzig aus Westschweiz, Wallis und Jura, elf aus Graubünden, acht aus dem Berner Oberland und der Zentralschweiz, drei aus der Ostschweiz sowie eines aus dem Tessin und  ein neues Winterbeizli. In den Bergwirtschaften, die sich an Wanderwegen und abseits von Strassen und Bergstationen befinden, kann aber nicht nur eingekehrt, sondern oft auch übernachtet werden. All die nötigen Infos stehen selbstverständlich in Richis Bestseller. Das Refuge de Chalin unter den Dents du Midi ist nicht drin, aus dem einfachen Grund, da es eine Selbstversorgerhütte ist. Das Refuge de la Charpoua seinerseits ist in der kurzen Sommersaison bewartet; allerdings weist die 1904 eingeweihte und 2023 renovierte Hütte nur gerade 12 Plätze auf. Auf ihrer Website von 2022 heisst es: „Le refuge étant constitué d’une pièce unique, le savoir-vivre est indispensable.“ Gute Umgangsformen sind eigentlich für alle Hütten unerlässlich, am Vorabend einer Tour so gut wie danach. Aber sich freuen am Tisch eines Zufluchtsgebäudes in rauer Natur, nach einem überstandenen Abenteuer, das muss dann schon sein, mais oui!

Hervé Bordeau: Une histoire des refuges de montagne. Éditions Glénat, Grenoble 2024. € 25,95.
Heidi Schwaiger: Erlebnis SAC-Hütten. Bergabenteuer für Familien. Weber/SAC Verlag, Thun/Gwatt 2024. Fr 59.–, SAC-Mitgliederpreis Fr 49.–
Richi Spillmann: Berg-Beizli-Führer 2024-25. 1253 Bergrestaurants. Spillmann Verlag, Zürich 2024. Fr. 39.- www.bergbeizli.ch

Tour du vélo

Die Tour de France rollt seit einer Woche. Wir radeln ebenfalls, mit neuen Velobüchern und der Ausstellung „Vélo. Équilibres en mouvement“ in Genf, zu der ein rassiger Katalog erschienen ist.

«Gehen Sie da weg, mein Gott! Sie kommen, sie kommen!»

Mon Dieu, wer kommt denn da? Mit dieser Warnung beginnt ein Text im Buch „I love my bike. Geschichten vom Fahrradfahren“; Marion Hertle hat sie ausgewählt. Zum Beispiel eben diese von Gabrielle-Sidonie Colette: „Das Ende einer Tour de France.“ Seit einer Woche kommen sie wieder, die Radrennfahrer, die die grösste Radsportveranstaltung bestreiten. Vor unzähligen Zuschauern, denen immer wieder zugerufen werden muss: „Gehen Sie da weg!“ Die 111. Tour de France dauert noch bis zum 21. Juli 2024, und sie endet zum ersten Mal nicht in Paris (Olympiade!), sondern in Nizza. Die Geschichte von Colette ist nur eine von lesenswerten im Diogenes Taschenbuch. Um den Etappensieg fährt sicher Jean-Jacques Sempé mit „Das Geheimnis des Fahrradhändlers“. Auf jeden Fall die perfekte Reiselektüre, wenn wir nach Genf fahren.

Warum nach Genf – und nicht nach Troyes, wo die Etappe vom Sonntag, 7.7., startet und endet? Ganz einfach, weil im Musée Rath die grosse Ausstellung „Vélo. Équilibres en mouvement“ zu sehen ist. Über seine scheinbare Einfachheit hinaus erweist sich das Velo als eine revolutionäre Erfindung. Von seinen Anfängen im 19. Jahrhundert bis zu seinen gesellschaftlichen Auswirkungen und den technischen Innovationen von heute lässt sich dieses symbolträchtige Gefährt als Transportmittel, aber auch als Quelle der Inspiration, der Freiheit und des Abenteuers wiederentdecken. Als Ärgernis ebenfalls: „Anfangs waren Velos auf der Strasse in Genf ja schlicht verboten. Die Koexistenz mit andern Verkehrsmitteln ist seit dem Beginn des Velofahrens ein Dauerthema“, sagt Laurence-Isaline Stahl Gretsch, Kuratorin der Ausstellung, in einem Interview mit „Pro Velo Magazin“. Anhand von rund 100 Sammlerfahrrädern wird in Genf eine fesselnde Geschichte erzählt, und interaktive Geräte ermöglichen es, die Geheimnisse des Velos zu ergründen. Zudem ist zur Ausstellung ein gewichtiger Katalog erschienen; ihn zu studieren oder gar ganz zu lesen, dafür reicht die Rückfahrt von Genf mit dem Zug nicht.

Oder sind wir gar mit Velo an den Genfersee gefahren. Tant mieux! Wer gerne so unterwegs ist, kann zu zwei neuen Führern greifen. „Le Valais à vélo“ von Nicolas Richoz ist ein Bildbandführer, den man nur zuhause studieren kann: 25,5 x 30,5 cm gross, 463 Seiten dick und 2,7 kg schwer, also mehr als doppelt so schwer wie ein Rennradrahmen. Doch das Buch von Richoz besticht ja vor allem durch seine Fotos, oft aufgenommen aus der Luft. Aber wir bleiben am Boden, genauer auf der Strasse, und können so die 31 Touren hautnah miterleben, vom Lac Léman bis hinauf zu Grimsel, Furka und Nufenen. Die Infos dazu lassen sich zum Glück scannen, so dass man leicht unterwegs sein kann bei all den Anstiegen. Denn flach ist das Wallis ja nur im Rhonetal, und dort sind die Strassen zur Zeit wegen der schlimmen Unwettern vom letzten Wochenende schlecht passierbar.

Besser ist es deshalb, erst im herbstlichen Wallis zu pedalen. Und in diesem Sommer mal die erste Hälfte der Tour de Suisse anzufahren, die Rainer Bühler und Roland Tännler „Gravelpacking Schweiz“ vorschlagen, nämlich von Lausanne durch den Jura nach Solothurn, weiter durchs Mittelland nach Thun und dann über die Voralpen nach Einsiedeln und Appenzell bis Chur. Nur: Was heisst Gravelpacking? Das leitet sich ab von Gravelbike, dem geländetauglichen Rennrad – und Trendsportgerät für Kies- und Waldwege. Abseits befestigter Strassen fahren Bühler & Tännler mit Freunden und wenig Gepäck in 20 Etappen durch die Schweiz. Wir sind dabei. Im Gepäck „I love my bike“. Vielleicht auch noch „Globi an der Tour de Suisse“. Am fünften Tag fragt sich Globi, im Peloton mitfahrend: „Warum pedalen die jetzt schon so schnell?“

Marion Hertle (Hg.): I love my bike. Geschichten vom Fahrradfahren. Diogenes Verlag, Zürich 2024. Fr. 19.-
Vélo. Équilibres en mouvement. Éditions Favre, Lausanne 2024. Fr. 25.- Die gleichnamige Ausstellung im Musée Rath in Genève dauert bis am 13. Oktober 2024, Di bis So, 10 bis 18 Uhr. www.mahmah.ch/expositions/velo
Nicolas Richoz: Le Valais à vélo. Éditions Slatkine, Genève 2023. Fr. 65.-
Rainer Bühler, Roland Tännler: Gravelpacking Schweiz. Vorwort von Max Küng.Weber Verlag, Thun 2024. Fr. 39.-
Heiri Schmid: Globi an der Tour de Suisse. Globi Verlag, Zürich 2024. Fr. 26.90.

Eiger, Montoz & Co.

Die fünfzehn neuen Gipfelkarten von Swisstopo im Massstab 1:25‘000 mit mehr oder minder bekannten Gipfeln aus unterschiedlichen Regionen der Schweiz sind ein schönes Tool für Gipfelstürmerinnen und Talwanderer.

Ein Berner namens Röbi Neiger
stieg durch die Nordwand auf den Eiger;
doch als den Gipfel er erreichte,
da war enttäuscht er und erbleichte:
Er hatte nämlich angenommen,
er sei aufs Wetterhorn geklommen.

Über 600 „Ein Berner namens…“ hat Ueli der Schreiber auf der Seite „Bärner Platte“ in der humoristisch-satirischen Zeitschrift „Nebelspalter“ veröffentlicht. Der Röbi Neiger steigt durch die falsche Nordwand auf einen der beiden mächtigen Grindelwalder Hausberge erstmals am 14. März 1973. Und er tut es im gleichen Jahr nochmals im fünften Band der gesammelten „Ein Berner namens…“ Insgesamt sind sieben solcher Bände erschienen. Der Schreiber heisst eigentlich Guido Schmezer (1924–2019). Er arbeitete viereinhalb Jahre als Bildredaktor des „Nebelspalter“, zehn Jahre als Programmschaffender beim Radio Bern sowie zweiundzwanzig Jahre als Beauftragter für Information und als Stadtarchivar der Stadt Bern. Der schönste Berg für ihn waren weder das Wetterhorn noch der Eiger, sondern das Bietschhorn.

Doch zurück zum Eiger. Schon wieder toppt er seinen Konkurrenten, und das gleich doppelt. Denn erstens steht sein Name auf einer der fünfzehn druckfrischen, neuen Gipfelkarten im Massstab 1:25‘000, die das Bundesamt für Landestopografie swisstopo herausgeben hat. Zweitens ist auf dem Blatt 25113 „Eiger. Faulhorn – Grindelwald – Jungfrau“ das arme Wetterhorn gar nicht drauf; der Blattausschnitt reicht im dorfnahen Hochgebirge von Grindelwald gen Osten grad knapp zum Mättenberg. Und das sind die Eckpunkte auf der 77 x 76 cm grossen Kartenfläche: von oben links im Uhrzeigersinn Unterseen – Schwarzhorn – Grünegghorn – Ellstabhoren. Es ist die Jungfrau-Region inklusive Mürren und Schilthorn, aber ohne Grosse Scheidegg und Wetterhorn. Eine grossartige Landschaft, wofür man sonst vier 1:25‘000er Blätter braucht. Nun hat man sie in einem Blick vor sich, und die zusammengefaltete Karte im Format 11 x 19 cm findet in der Beintasche gut Platz. Die Gipfelkarten werden nicht im Voraus gedruckt, sondern erst bei Bestellung mit einem Hochgeschwindigkeits-Digitaldrucker produziert, was Papier spart. Die Karten werden jährlich mit den neusten verfügbaren Daten aktualisiert.

Die aktuelle Auswahl bildet insbesondere jene mehr oder minder bekannten Gipfel ab, die oft ausserhalb des Blattschnitts bzw. zwischen Kartenblättern liegen; sie ersetzt teils auch die Zusammensetzungen. Folgende Gipfel(karten) warten auf Gipfelstürmerinnen und Talwanderer: Passwang (Blatt 25101), Mont Raimeux (25102), Montoz (25103), Le Moléson 25104), Rochers de Naye (25105), Dom (251069), Monte Tamaro (25107), Piz Corvatsch (25108), Säntis (25109), Speer (25110), Schnebelhorn (25111), Titlis (2512), Brienzer Rothorn (25114) und Napf (24115). Darunter wohl nicht ganz zufällig sechs Kantonshöhepunkte (JU, AI, AR, ZH, OW, LU) sowie der höchste, ganz in der Schweiz liegende Gipfel. Allerdings ist der Dom (4546 m) auf dem 1:25‘000 Blatt „Randa“ bereits bestens abgebildet. Dringender wäre deshalb in der swisstopo Kartenserie Gipfel das Blatt „Monte Rosa“; während seine Ostwand mit den vier höchsten Gipfeln der Schweiz auf der Karte im Massstab 1:25‘000 abgebildet ist, liegt das Gebiet südlich der Landesgrenze zwischen Signalkuppe und Gobba di Rollin analog und digital aussen vor, ist also weiss wie die Gletscher dort. Dass Gipfelstürmer dann anstelle des angepeilten Felikhorns (4087 m) die Punta Perazzi (3906 m) erreichen, ist nicht ganz ausgeschlossen.

Bundesamt für Landestopografie swisstopo, Kartenserie Gipfel, 1:25‘000. Preis pro Blatt Fr. 21.50. https://shop.swisstopo.admin.ch/de/karten/regionskarten/gipfel-25000

Zwischen Bürgenberg und Titlis

Der Bürgenstock am Lake Lucerne wird wieder begehbar. Im Reisegepäck ein traditioneller Führer und eine literarische Spurensuche.

«Besonders in den 1950er-Jahren erlebte der Bürgenstock viel Glamour und Prominenz. Audrey Hepburn heiratete Mel Ferrer 1954 in der kleinen Kapelle aus dem 19. Jahrhundert. Die beiden besuchten den Bürgenstock auch in den folgenden Jahren immer wieder, genauso wie Sophia Loren und ihr Mann Carlo Ponti sowie in den 1960er-Jahren Sean Connery, der damalige James-Bond-Darsteller. Heute weisen Plaketten an den verschiedenen Häusern des 2017 neu eröffneten Resorts auf die berühmten Gäste und die illustre Geschichte des Bürgenstocks hin.»

Schon bald hängen dort bestimmt neue Plaketten, die an die hochrangige Friedenskonferenz vom 15. und 16. Juni 2024 erinnern. Als Melanie Gerber ihre „Lieblingsplätze rund um den Vierwaldstättersee“ auswählte und beschrieb, war der Summit on Peace in Ukraine auf dem Bürgenstock noch kein Thema. Jetzt besuchen wir erst recht mal diesen berühmten Gipfel am Lake Lucerne. Der Bürgenstock hat die Nummer 39 erhalten. Die 80 Plätze verteilen sich so: Je 20 in Luzern, Unterwalden, Uri sowie Schwyz und Zug. Obwalden und Zug haben keinen Anteil am Lac des Quatre-Cantons, gehören aber durchaus zur Region zmitts ir Schwyz. Und da gibt es eben einiges zu entdecken: Zum Beispiel die Festung Fürigen im Bürgenberg. So nennt man den zehn Kilometer langen Gebirgsrücken zwischen Ennetbürgen im Osten und Stansstad im Westen; sein höchster Punkt heisst (1128 m)  Bürgenstock – wie das Resort. Genau über den mittleren Teil des Rückens verläuft die Kantonsgrenze LU-NW.

«In den folgenden Wochen achte ich auf die Grenze zwischen Nidwalden und Obwalden, doch es ist schwierig, den einen Kanton zu erkunden ohne in den anderen zu stolpern. Selbst der markante Gebirgszug zwischen den beiden Tälern ist keine zuverlässige Schranke. Ich steige in Obwalden in eine Seilbahn, schwebe auf halbe Höhe eines Berges hinauf und steige in Nidwalden aus, wo sich die scharfen Kanten des schneebedeckten Gipfels gegen einen weissen Himmel abheben.»

Nun, ganz so schwierig ist es im Allgemeinen nicht mit der unterwaldnerischen Halbkantonsgrenze, ausser dort, wo die Exklave Engelberg (OW) tatsächlich für überraschende Grenzübertritte sorgt, bei den Seilbahnfahrten Richtung Titlis oder nach Brunniswald. Das Zitat stammt von Shelby Stuart, einer transdisziplinären Künstlerin und Autorin mit einem Masterabschluss an der Zürcher Hochschule der Künste. In ihrem zweisprachigen Buch „Schwyz. Uri. Unterwalden“ unternimmt sie 21 Wanderungen durch die drei Gründungskantone der Schweiz, um den Landschaften zu begegnen, die sich hinter den gängigen Klischees verbergen. Mit jeder Entdeckung eines Kantons erscheinen die anderen in einem anderen Licht, mit jedem Textabschnitt werden Berge und Wiesen, Orte und Begegnungen neu wahrgenommen und gedeutet. Scheinbar leicht und locker hingesetzt, und plötzlich taucht hinter den Zeilen mehr auf, als man zuerst gelesen und gedacht hat. Passende Lektüre für ein paar sommerliche Sonnenstunden am Vierwaldstättersee. Auch an demjenigen im Zoo Berlin. Denn der vielarmige See zwischen Affen- und Elefantenhaus heisst wie der viertgrösste See der Schweiz.

Melanie Gerber: Lieblingsplätze rund um den Vierwaldstättersee. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2024. € 17,00.

Shelby Stuart: Schwyz. Uri. Unterwalden. Zweisprachige Ausgabe. Translated from the English by Beatrice Minger. Mit einem Nachwort von Christian de Simoni. Edition Taberna Kritika, Bern 2024. Fr. 18.- www.shelbylstuart.com