Der Simmentaler Giel

Es gibt sie noch, auch in jüngerer Gestalt: Eingeborene, die so treffend ins Landschaftsbild passen wie ein Alpaufzug am Berg. Mir ist ein solcher Einheimischer begegnet. Ein waschechter Giel eben. © Annette Frommherz Lenk Wildhornhütte 09 2014 (28)

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Der Giel, also ein junger Mann, ist in diesem Falle ein Mittzwanziger. Meine Nichte hatte ihn vor nicht allzu langer Zeit angelacht, und seither gehen sie gemeinsam des Weges. Im hintersten Dorf des Simmentals haben sich die Beiden ein Nestchen eingerichtet; dort, wo der Giel geboren und aufgewachsen ist. Während meine Nichte dem Tourismus unter die Arme greift, arbeitet der Giel als gestandener Handwerker.
So weit, so gut. Gestern noch wanderten meine Nichte und ich von der Iffigenalp aus auf die Wildhornhütte. Die Regenwand hatte sich nachmittags bedrohlich dunkel vor uns erhoben, liess aber die schweren Tropfen erst niederprasseln, als wir bereits wieder im Trockenen sassen. Tags darauf, es war Sonntag, baten im Dorf die Glocken zum Kirchgang. Wir hingegen assen weiter von der feinen Züpfe und spielten „Wer bin ich“ (ich war Pippi Langstrumpf, meine Nichte irgendein norwegischer Langläufer und der Giel Barack Obama). Als wir später auf den Betelberg gondelten, schob die Sonne die Wolken gespenstisch vor sich her. Der Alprundweg bot am Gebirgskamm eine Kraterlandschaft, als würde man den Mond betreten. Trichterförmige Vertiefungen, sogenannte Dolinen, die als wertvolle Biotope gelten, wie ich auf den Tafeln des Erlebnispfades lesen konnte.
Wie wir so des schmalen Pfades liefen, vernahm ich hinter mir ein Räuspern, ein leises Summen, und gleich darauf floss eine volle Stimme in den späten Sommertag:
Nur eis Blüemli cha Freud mache / nur eis Wort, das länget scho / es bruucht bestimmt nid grossi Sache / es muess eifach vo Härze cho / ts allerchlinschte Örtli zeigt / ts Gröscht, wos git, isch Dankbarkeit. Der Giel sang die Strophe aus tiefstem Herzen und hängte einen Jodel an. Ich setzte mit ein. Die Hände in den Hosentaschen und den Blick über die Moorlandschaft schweifend, hatte der Blondschopf Zeit und Musse für sich gepachtet.
Apropos Zeit: Wenn den Gielen und Modis im Simmental die Arbeit bis zum Halse steht, so nennen sie das „z Füdle vou z tüe“, was ich aus Gründen politischer Korrektheit nicht ins saubere Deutsch übersetzen möchte. In städtischen Gebieten und in der Agglomeration wird das karge Wort „Stress“ verwendet. Das hört sich im Vergleich zum Berner Ausdruck weder melodisch noch dramatisch an, sondern einfach nur einsilbig und fade. Aber zurück zum Giel, der nun die nächste Strophe zum Besten gab:
I tarf läbe i de Bärge / i cha da deheime sy / uf däm Fläckli Heimaterde / darfsch du säge, du bisch mi / drum bi i o gärn bereit / um dir z zeige Dankbarkeit. Hätte er dazu die Schweizer Fahne geschwungen, mich hätte es nicht gewundert.
Zurück in der warmen Stube, gab er noch eins drauf. Darf ich? fragte er und zog unter dem Tisch ein Schwyzerörgeli hervor. Er durfte, gerne. Und während ich seinen flinken Fingern zusah und der Polka lauschte, sinnierte ich darüber nach, mit welch grosser Heimatliebe der Giel hier ausgerüstet war. Doch eigentlich fehlt mir die Zeit, dies alles niederzuschreiben, denn ich habe noch z Füdle vou z tüe.

Lied „Dankbarkeit“ von Franz Stadelmann (Schweizer Jodler, Komponist und Volksmusikant)

Es wurde Zeit

Die magische Grenze liegt bei Bergsteigern bei viertausend Metern. Es gibt zwar Berge, die tiefer liegen und durchaus attraktiver sind. Aber das können sie uns noch lange versuchen klarzumachen. © Annette Frommherz Alphubel 08 2014 (53)

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Ich war kurzatmiger als in tieferen Lagen. Unter uns lag still der Gletscher und liess sich von meiner Stirnlampe beleuchten. Fünf Uhr morgens, seit einer Stunde waren wir unterwegs Richtung Alphubel. In der kurzen Nacht hatte ich kaum ein Auge zugemacht, denn die Herren der Schöpfung hatten sich in durchdringendem Schnarchen gemessen. Aber Berghütten sind ja nicht zum Schlafen da, nur zum Übernachten.
Es wurde Zeit mit meinem ersten Viertausender. Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann wehe. Ich wusste, ich würde mir selber nicht nachgeben und das Objekt der Begierde noch vor meinem runden Geburtstag besteigen. So hatte ich es mit mir ausgemacht. Das Wallis gibt eine anständige Auswahl an Viertausendern her, sodass uns die Wahl nicht leicht gefallen war. Wir entschieden uns für den Alphubel, von der Täschhütte her über den Südostgrat, die „Eisnase“ hinauf. Von diesem Berg aus, so wurde mir versprochen, könne das Matterhorn in seiner ganzen Pracht bestaunt werden – schönes Wetter vorausgesetzt. Die Wolken spielten ein bisschen Verstecken. Mal hüllten sie den Prachtsberg in ein weisses Röckchen, mal legten sie sich als Schleier um den Gipfel, so, als wollten sie uns necken.
Embrüff, auf Walliser Deutsch „hinauf“, geht es Tausendfünfhundert Höhenmeter bis zum Gipfel des Alphubels. Dorthin, auf 4‘207 müM, gelangten wir die letzten hundert Meter durch dichten Nebel.
Wir vermissten das Gipfelkreuz, obwohl ich gut und gerne auf Kreuze verzichten mag. Es liege unter unseren Füssen unter dem Schnee, sagte uns der Bergführer, der seinen Gast auf dessen siebzigsten Viertausender hinaufgeführt hatte. Ich beglückwünschte ihn zu seinem Rekord, er gratulierte mir zu meinem ersten Viertausender. Mein Glücksgefühl hielt sich in Grenzen, als ich mich in der Kälte hinsetzte und aus meiner Guttra heissen Tee trank. Irgendwie hatte ich mir mein Ziel grandioser, bemerkenswerter und herausfordernder vorgestellt.
Die Kälte und der Nebel liessen uns nicht lange auf dem Gipfel weilen. Als wir abstiegen, unseren Berg von der anderen Seite her umrundeten und zum Alphubeljoch gelangten, wurde uns doch noch der volle Blick aufs Matterhorn geschenkt. Diese leicht geknickte Spitze, diese mächtigen Flanken, diese steilen Grate! Einhundertneunundvierzig Jahre sind es her, seit erstmals die Besteigung des Berges gelang. Ein Einheimischer sagte uns später, das Matterhorn entfalte seine Schönheit nur auf Schweizer Seite. Von der italienischen Seite her sei ds‘ Horu, wie die Walliser es liebevoll nennen, nur ein unbedeutender Tschugge, ein Felsen. Stolz sind sie, die Walliser.
Als wir uns vom Alpentaxi nach Täsch bringen liessen, sog ich nochmals mit allen Sinnen die Alpenwelt ein. Meine innere Stimme sagte: In diese Gegend müssen wir mal wieder. Die vertraute Stimme neben mir sagte: «In diese Gegend müssen wir wieder mal. Hier gibt es noch viel zu tun.»

Glückskinder

Glückskinder nennt man jene, die günstige Umstände auf ihre Seite nehmen. Diesmal waren wir mittendrin: Wir angelten uns die drei schönsten Bergtage dieses Sommers. Und nicht nur das. © Annette Frommherz Engadin Veltlin 08 2014 (16)

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Die Gunst des Schicksals nutzen, dachte ich, und blinzelte in die Sonne. Vor drei Tagen waren wir bei kühlem Nieselregen in Pontresina gestartet und durchs Val Roseg hinauf in die Tschiervahütte gewandert. Tags darauf hatten wir bei herrlichem Sonnenschein den Piz Morteratsch bestiegen.
Über die Fuorcla Boval waren wir zur Bovalhütte hinabgestiegen, wo wir nach einer gewittrigen Nacht in aller Herrgottsfrühe entlang der Moräne liefen und den Morteratschgletscher querten, hinüber zur Isla Pers und entlang der Gemsfreiheit zur Fortezza hinauf. Ein felsiger Grat empfing uns mit einer Kletterei bis zur Bellavistaterrasse, wo wir die Steigeisen wieder montierten und am langen Seil über den weich gewordenen Schnee zur Marco e Rosa Hütte liefen. Knietief sanken wir bei jedem zweiten Schritt ein. Ich sah die Hütte von weitem, aber die Streichholzschachtel wollte und wollte nicht näher kommen. Das Leben eines Hüttenwarts muss trist sein, ging es mir später durch den Kopf, als ich nach einem erschöpften Nachmittagsschläfchen den Wandschmuck mit den nackten Frauen begutachtete. Entweder muss der Mann hier oben Holz hacken gehen oder ein deftiges Menü kochen. Unser Italiener wählte die zweite Variante und servierte im Einweggeschirr ein herzhaftes Menü, wie es sich in Italien gehört.

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Nun also, dachte ich, als wir anderntags den gleichen Weg auf hart gefrorenem Schnee zurücklegten, nun also wollen wir auf den Piz Palü. Das Wetter liess keine Ausrede zu. Die abendlichen Wolken hatten sich in Luft aufgelöst, helles Sonnenlicht fiel glänzend auf die Schneehänge, und die morgendlichen trägen Schatten liessen unsere Gedanken gemächlich fliessen.
Die Gunst des Schicksals musste genutzt werden. Ich freute mich auf unser Vorhaben, aber die ausgesetzte Felskletterei auf den westlichen Gipfel, den Piz Spinas, war mir mit meiner Höhenangst nicht geheuer. Mit meinem Liebsten hatte ich mich auf die Umgehung dieses Gipfels geeinigt, indem wir von der italienischen Seite her die steile Nordflanke besteigen und somit zwischen dem Piz Spinas und dem Hauptgipfel auf den Grat gelangen würden. Keine einzige Spur war im harten Schnee zu erkennen, wie wir gegen die Flanke zuliefen. Es war mir, als wären wir die ersten, die hier durchkämen. Die Stille, die uns umgab und die einem manchmal tief im Herzen sitzt, fühlte sich mit einem Male bedrohlich an. Vor uns im Schatten lag diese schroffe, eisige Wand. Mein Pendant ging voran. Beide stemmten wir unsere Steigeisen in den harten Untergrund, suchten nach festem Halt und schlugen die Pickel ein. Der Rucksack lag mir schwer am Rücken und schien mich nach hinten in die Tiefe zu ziehen. Die Gunst des Schicksals nutzen, dachte ich dort in der Wand, nutze die Gunst des Schicksals; es ist dir wohl gesinnt. Ich schnaufte schwer. Vielleicht war es die Höhe, wahrscheinlich war es die Angst. Bis ich oben ankam, starb ich hundert Tode. Der schmale Grat, der mich erwartete, war die Zugabe, war die nächste Prüfung, die mir auflauerte. Weshalb tust du das, fragte ich mich, aber die Antwort wich dem konzentrierten Vorwärtslaufen. Da, wo der Grat sich auflöste für einen lauschigen Platz auf dem Hauptgipfel, da konnte ich endlich meinen Puls beruhigen. Das musste sein, denn vom Hauptgipfel bis zum Ostgipfel führt ein noch schmalerer Firngrat, der mir abermals die volle Konzentration abverlangte. Langsam, Schritt für Schritt, fokussierte ich meinen Blick auf die Fussspuren vor mir. Als ich den Grat endlich hinter mir lassen konnte, glaubte ich meinen Bruder zu spüren, wie er mir zuwinkte, vom Himmel herab, wo er schon lange wohnt. Um uns war eine Weite und war warmes Sonnenlicht, das uns umschmeichelte. Mein Liebster gab mir mehr als nur einen Gipfelkuss. Es waren immerhin drei Gipfel und er erleichtert. Und erst jetzt konnte ich mir meine Frage beantworten. Weshalb ich das tue? Glückskinder, dachte ich nur, wir sind Glückskinder.

Die Voralpenwanderung

Schlechtes Wetter gibt es nicht, heisst es, nur schlechte Kleidung. Das tröstet uns wenig über das trübe Nass hinweg. Umso mehr heisst es jetzt: Optimistisch und entschlossen unter dem Regenhut hervorschauen. © Annette Frommherz Niederscherli 07 2014 (16)

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Angesagt waren eigentlich die stolzen Bündner Berge gewesen, doch das Wetter belehrte uns eines Besseren. Wie immer hat die Natur das Sagen und liess die Pläne, unsere schönen, einmal mehr durchkreuzen. So packe ich die Siebensachen für die Bergtouren wieder aus und die wenigen Utensilien in eine Tasche und fahre ins Bernische, wo das Wetter das gleiche ist und wo meine Schwoscht vor Urzeiten sesshaft geworden ist. Das Wiedersehen alleine macht schon glücklich, trübes Wetter hin oder her. Anderntags trauen wir uns doch vors Haus, im guten Glauben daran, der Regen möge uns nicht fortschwemmen. Unweit von Niederscherli ist ein Bach arg über sein Bord geflohen, hat Salatköpfe und Krautstiele und Zucchetti eines schmucken Bauerngartens mitgeschwemmt und allerlei anderes auch. Der Wanderweg ist abgesperrt. Wir machen einen gehörigen Bogen um den Bach und stürzen uns hinein in das untheatralische Abenteuer dieser voralpinen Wanderung, wie wir sie bald nennen werden. Wärmende Ortsnamen begleiten uns: Liebewil und Herzwil, wie gut das tut. Vorbei an triefenden Lindenbäumen und wuchtigen Bauernhäusern, vorüber am schwarzglänzenden Fell der Rinder, die unbeweglich dieses Wetter erdulden. Wie Vorhänge von Bindfäden löst sich der Regen vom Himmel, und die Wolken hängen so tief wie selten. Wir haben uns trotzig den Regenhosen widersetzt, sodass wir bald mit nassen Hosen vorlieb nehmen müssen. Die Luft riecht modrig und feucht wie der Keller in meiner Kindheit.

Niederscherli 07 2014 (13)

Dem Getreide hat das Wetter stark zugesetzt, schon beugen sich die schwarz durchsetzten Ähren ihrem Schicksal. Wir laufen mit Schirm und Charme durch die Weiler. Kein Misthaufen dampft, kein Huhn scharrt in der schlammigen Erde. Nicht einmal ein Hofhund mag uns bellend entgegenlaufen. Wir begegnen kaum einem Menschen, nur das Auto des Pöstlers überholt uns langsam, damit die Pfützen uns nicht noch mehr zusetzen. Er winkt uns zu, und sein mitleidiger Blick begleitet uns gedanklich noch eine ganze Weile. Das Wandern ist des Müllers Lust, vor allem bei schönem Wetter. Zwei Rehe fliehen in hohen Sätzen über ein Kornfeld. Wir wandern unbeirrt weiter zum nächsten Weiler, wo das Ortsschild von Mengestorf schon Moos angesetzt hat. Meine Schwoscht kennt den Weg wie ihre Hosentasche, so dass wir im Nebel und tropfend ohne GPS zurückfinden; zurück nach Niederscherli, das mir immer so lieblich daherkommt. Schlechtes Wetter? Gibt es nicht, aber nun sehnen wir uns nach einer Tasse heissen Kaffee.

Der sechste Sinn

Beim Tier wird es Instinkt genannt, beim Menschen nenne ich es die innere Stimme. Was es auch gewesen sein mag: Es hat uns richtig handeln lassen. © Annette Frommherz Bristen am Berg 06 2014 (20)

Bristen am Berg 06 2014 (1)
Bristen am Berg 06 2014 (2)
Bristen am Berg 06 2014 (9)

Wer als Bergsteiger alt werden will, muss umkehren können. Oder zumindest eine Alternative im Rucksack bereithalten. Wir wollten Freunde in der Etzlihütte treffen, die auf einer anspruchsvollen Zweitageswanderung dort nächtigen wollten. Mein Pendant erinnerte sich an den Bristen, ein mächtig kantiger Dreitausender, auf den könnten wir doch, meinte er, und ich nickte – einfach in die Berge, nichts wie weg. Eine unruhige Zeit lag hinter mir, und mein Liebster stand in seinem Betrieb mitten in der Hochsaison. Die mentalen Voraussetzungen waren also wie geschaffen, um ein Bergprojekt scheitern zu lassen. Aber nicht alleine dies, das wäre zu einfach erklärt. Es gab noch andere Nebeneffekte, welche für unser Vorhaben kein gutes Omen bedeuteten: die erste Hochtour dieser Saison, die Kondition noch kaum geschaffen für eine Zehn-Stunden-Tour, auf den Nachmittag waren lokale Gewitter angesagt, und der Kopf war alles andere als frei und bereit. Alles in allem keine geeigneten Voraussetzungen für diese Tour. Über fünf Stunden bis zum Gipfel, eine Hundertmeter-Wand in brüchigem Fels klettern, ein langer Grat über teils loses Gestein. Mir sträubten sich die Nackenhaare, als wir uns tags zuvor noch schnell eine Übersicht verschaffen wollten. Noch schnell geht in den Bergen nicht. Noch schnell ist leichtsinnig und kann gefährlich werden. Das wussten wir. Eigentlich.
Wir hatten ausgemacht, uns vor Ort zu entscheiden. Als wir beim Aufstieg zur Hütte aufblickten, standen unsere Freunde da oben und winkten uns zu. Sie waren von Erstfeld über Amsteg und Bristen bis hierhin gelaufen, und am nächsten Morgen würden sie weiterziehen über Mittelplatten nach Sedrun und über den Oberalppass bis hinunter nach Andermatt, diese Verrückten.
Bei Tagesanbruch zogen wir los. Fünf Uhr in der Früh, es war der zweitlängste Tag dieses Jahres. Zwei Auerhühner flatterten im Morgentau erstaunt von dannen, als wir Richtung Rossbodenstock liefen. Über das Steingrätli hinweg sah es ziemlich steil aus, meine Schritte waren auch schon trittfester auf solch unsicherem Grund. Vor dem ersten abschüssigen Schneefeld blieb ich stehen und schaute hinüber zur Chlüserlücke, die wir durch ein Couloir erreichen würden. Dann erst würden wir vor der Kletterwand stehen, der Grat noch unerreicht. Es ging nicht. Ich sagte Nein.
Mein Liebster fand sich damit ab. Auch er war sich nicht sicher gewesen. Steigeisen, Klettergurt und Seil trugen wir für den Rest des Tages ungebraucht, aber tapfer über steile und weniger steile Schneefelder und Granitgestein. Wir fanden entlang des Bristen Kristalle, die im Sonnenlicht um die Wette flunkerten, und staunten über die Schafherde, die weiter unten so flink über die Steinplatten sprang. Immer mal wieder schauten wir hoch zu diesem Gipfel, den wir nicht erreichen würden; sie mit etwas weniger Wehmut als er. Beim Lauchergrat zog uns die Weite in den Bann. Das Maderanertal lag vor uns, nebenan das Reusstal, durch das sich die Reuss in den Urnersee ergibt. Weit unten in Amsteg fuhren die winzigen Blechkisten weiter nach Göschenen, direkt in den Berg hinein, und würden erst im Tessin wieder ausgespuckt.
Beim Bristensee vor der Hütte schlürften wir lauwarmen, gezuckerten Kaffee, der uns gereicht wurde, bevor wir die tausenddreihundert Höhenmeter hinab unter die Füsse nahmen. Die Urner Hänge sind ja so steil, dass die Bergfamilien aufpassen müssen, dass ihnen die Kinder nicht den Hang hinunterpurzeln. Sagt mein Liebster.
Eine Nase voll Bergwiese, eine Prise voll Urnervolk, und um drei Blasen und eine Erfahrung reicher, merke ich mir: Lasse den sechsten Sinn nie aus den Augen! Verschwende jede Gelegenheit damit, dein Befinden zu prüfen. Trage den Mut immer in deiner Hosentasche, aber traue in erster Linie deinem Gefühl. Auch wenn dir letztlich der Gipfelkuss entgeht.

Wo das Geheimnis gehütet wird

Als Ureinwohner der Schweiz bezeichne ich neben den Muotathalern klar die Appenzeller. Beide sind sie eigenständiges und urchiges Schweizervolk. Die Appenzeller aber sind unerreicht. Wer sonst ist so verschwiegen wie sie? © Annette Frommherz

Ebenalp Appenzöll 04 2014 (21)
Ebenalp Appenzöll 04 2014 (41)
Ebenalp Appenzöll 04 2014 (36)
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Ebenalp Appenzöll 04 2014 (25)

Der Tag war wie gemacht, um die Dringlichkeiten im Büro auf die lange Bank zu schieben. So stahl ich mich vom Alltag weg. Bodenständig lag das Appenzell vor mir. Weiche Hügel zierten grün die Landschaft, und auf dem Hohen Kasten lagen kümmerliche Resten von Schnee. Es roch nach Frühling. Am nördlichen Ende der Alpsteinkette liegt die Ebenalp. Von Weissbad aus verläuft der Wanderweg in Schlangenlinien Richtung Felsenwand, die mich mit ihrem gelblichen Kalkgestein daran erinnerte, dass bald Klettern angesagt ist. Wasser tropfte von der überhängenden Wand auf meinen Kopf. Die Wirtschaft Aescher lag verlassen da, noch ganz im Winterschlaf. Nach dem Waldkirchli, das in einer Kalkhöhle beherbergt ist, gelangte ich zum nebenan gelegenen Höhlensystem. Dunkelheit empfing mich. Eine Weile stand ich einfach da und hörte den Tropfen zu, wie sie von der Decke mit einem hellen Plopp zu Boden fielen. Der Ausgang der Höhle sollte mich nahe zur Ebenalp bringen, aber es lag an dieser schattigen Stelle eine Menge Schnee und versperrte mir damit den Durchgang. So lief ich zurück, Höhle, Waldkirchli, Aescher bald hinter mich lassend, und stieg entlang der Zislerwand die Anhöhe hinauf. Bis dahin war ich keiner Menschenseele begegnet, ausser in und um Weissbad, wo mir summa summarum vier Traktorfahrer zugewinkt hatten. Ich bildete mir nichts darauf ein. Später wurde mir bewusst, dass alleine wandern wohl schön ist, aber ohne Wanderkarte auch bedrohlich werden kann. Der Pfad verlief dem steilen Bord entlang, weiter hinten gar über eine Felswand, matschigen Stellen musste ich ausweichen, und in der Ferne protzte bereits der Säntis. Tief unter mir lag im Schatten der Seealpsee und vermochte mir nicht zu versprechen, ich würde weich fallen, sollte ich auf dem Weg ausrutschen. Bald erreichte ich die ersten Schneefelder, und spätestens da wusste ich, dass umkehren ein weiser Entscheid sein könnte. Drei Gemsen starrten zu mir hinüber, als wollten sie mich fragen, was ich hier verloren habe. Ich kehrte um.
Aber hatte ich anfangs nicht von einem Geheimnis gesprochen? Geduld bringt vielleicht Rosen. Oder Krokusse. Wer weiss. Bei der Wirtschaft Aescher setzte ich mich auf eine Bank ins Sonnenlicht und kam nicht umhin, mein Brötchen mit zwölf Bergdohlen zu teilen.
Wer bis hierhin durchgehalten hat, dem sei die Hand geschüttelt, denn endlich kommen wir zum Kern der Sache. Während die Muotathaler eher das Wetter schmöcken, sind die Appenzeller klar die Geheimniskrämer. Keiner der Eingeborenen würde das Rezept des Appenzeller Käses herausrücken, das ist Ehrensache. Sie halten so dicht wie die Gummistiefel des Bauern, den ich beim Abstieg im steilen Wiesengelände traf und der sich beim Zäunen gerne von mir aufhalten liess. Wir fachsimpelten über die Vor- und Nachteile von Stacheldraht; schliesslich konnte ich von meiner vagen Alp-Erfahrung letzten Sommer einiges einbringen. Auf die Frage, ob er mir das Rezept des Appenzeller Käses verraten möge, wurde er wortkarg. Spannung lag mit einem Male in der Luft. Sogar die Krokusse, die auf den Matten ihre Köpfe aus der Erde drängten, hielten mit Wachsen inne.
Auch im Dorf unten fand ich niemanden, der das Geheimnis lüften und mich damit zur Mitwisserin machen wollte. Nicht die Frau in Schürze, die im Garten weisse Leintücher an die Leine hängte. Nicht der Junge, der gelangweilt über den Kirchenplatz schlenderte. Und die Traktoren fuhren zu schnell an mir vorüber, als dass ich die Fahrer hätte fragen können.
Weissbad suhlte sich in der warmen Nachmittagssonne, als ich zurückkehrte. Zuvor musste ich mich bei den Bauernhöfen rund um das Dorf insgesamt gegen drei Appenzeller Hunde wehren, die mich heiser kläffend umrundeten und mir mit ihrem fletschenden Gebiss den Garaus machen wollten.
„Landsgmendchröm“ stand auf der Tafel beim Eingang einer Bäckerei. Diese Chrempfli brachten früher die Mannen den Frauen und Kindern heim; am letzten Sonntag im April, nachdem sie an der Landsgemeinde ihre Hand gehoben und im Bären eins über den Durst getrunken hatten. Seit die Frauen im Appenzellischen auch eine Stimme haben (seit anno 1990, also immerhin neunzehn Jahre nach der offiziellen Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz), werden die Chrempfli hier das ganze Jahr über angeboten.
Erschöpft von der erfolglosen Jagd nach des Rätsels Lösung verliess ich Weissbad, nicht ohne dem fünften Traktor hinterher zu winken. Die Landsgmendchröm brachte ich einer Heimweh-Innerrhödlerin, die sich mächtig freute. Aber auch sie verlor kein Wort, als ich sie nach dem Rezept des Appenzellers fragte.

Die Qual der Wahl

Zwei Frauen, ein Berg. Aber welcher? Die Suche nach unserem Viertausender gestaltet sich schwierig. Wir beraten auf dem Weg zum höchsten Zürcher Berg. © Annette Frommherz

Schnebelhorn mit Anny 03 2014 (5)
Schnebelhorn mit Anny 03 2014 (30)
Schnebelhorn mit Anny 03 2014 (18)
Schnebelhorn mit Anny 03 2014 (24)

Breit ist das Sortiment der Schweizer Berge. Das wird Anny und mir bewusst, als wir von Steg aus auf das Schnebelhorn wandern. Im Rucksack liegt schweigend der ‚plaisir alpin‘.
Nach unserem Tödi, wie wir ihn zu nennen pflegen, sind wir mutiger und anspruchsvoller geworden und wollen uns diesen Sommer einen richtig schönen Viertausender genehmigen. Während wir über die Hirzegg laufen, zerbrechen wir uns die Köpfe, wägen wir Vor- und Nachteile der höchsten Schweizer Gipfel ab. Einige Kriterien, da sind wir uns einig, müssen genauestens beachtet werden: Nicht zu hoch soll der Berg sein, aber mindestens viertausend Meter über Meer. Ein Genuss fürs verwöhnte Auge ist die absolute Bedingung, und bitte ohne Karawanen von Seilschaften, die hinter und vor uns über den Gletscher pilgern. Das Allalinhorn verschmähen wir deshalb genauso wie das Breithorn, das wir – weil zu komfortabel – links liegen lassen wollen.
So schwer kann es doch nicht sein, zu finden, was unseren bescheidenen Wünschen entspricht. Wir suchen nach einem richtig edlen Berg von vollendeter Schönheit. Erstbestiegen darf er sein; das lässt sich nicht mehr ändern. Aber unserem Können in Eis, Schnee und Fels soll er entgegenkommen und auf jeden Fall abwechslungsreich und herausfordernd sein. Am liebsten wäre uns eine Route mit einer hübschen Kletterei im dritten, höchstens vierten Grad – und um Himmels Willen nicht zu ausgesetzt. Kurz und gut: Wir suchen den absoluten Geheimtipp. Würde das Weissmies unseren Anforderungen genügen, mit der Überschreitung von Süden her? Oder könnte eher das Lagginhorn auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten sein? Wir mausern uns zu richtigen Rosinenpickern.
Heute haben wir vom Angebot des Frühlings Gebrauch gemacht und den Montag zu unserem freien Tag befördert. Auf dem Burenboden schauen wir in die Weite. Milchig steht unser Tödi in der Ferne. Auf diesen stiegen wir letztes Jahr ohne Wenn und Aber.
Über unseren Köpfen zieht ein Sperber seine Kreise und äugt zu uns hinunter. Oben auf dem Gipfel liegt ein Stein, der die Grenze zwischen zwei Kantonen zieht. Auf der St. Galler Seite liegen noch Schneefelder. Ein jung gebliebenes Paar feiert hier oben die ersten zehn Jahre ihres gemeinsamen Weges. Sie hätten sich, sagen die beiden lachend, unten in der Alpwirtschaft Tierhag kennengelernt. Nun kehren sie zurück an den Tatort. Mit Weisswein stossen sie auf ihr Jubiläum an, und ich halte den Kuss mit ihrer Kamera fest.
Wir lassen sie im Liebestaumel zurück, suchen nach halbwegs trockenen Ästen, um Feuer zu machen, und schon bald züngeln die Flammen. Surprise! Ich packe den Brotteig aus, den ich frühmorgens geknetet habe, rolle ihn zwischen den Händen und drehe ihn um einen Ast. Anny staunt. Unsere erste Wurst in dieser Saison brutzelt über dem Feuer, das Brot duftet, die Sonne scheint, es ist perfekt. Nur unseren Berg haben wir noch immer nicht gefunden.

Aus gutem Grund

Im Winter sollen die Nordhänge mit über dreissig Grad Neigung gemieden werden. Aber in einem Lawinenkurs ist es exakt dieses steile Gelände, das genauer unter die Lupe genommen werden soll. An flachen Stellen lernt man nichts. © Annette Frommherz Heuberge 01 2014 Lawinenkurs (32)

Von Schwachschicht und Gleitschicht ist an diesem Tag die Rede, und das Wort Altschneeproblem mausert sich gar zum absoluten Renner. Unser Bergführer hat die Gruppe in die Prättigauer Heuberge gebracht, wo das vorhandene Wissen erweitert und vertieft werden soll. Man kann nie genug hören von Schneemustern, Spontanlawinen und Schneebrettern.
Im Infomail an die Kursteilnehmer hatte der Bergführer verlauten lassen: „Diese Saison hat bis jetzt ganz klar aufgezeigt, dass man nicht nur mit rechnerischen und theoretischen Methoden unterwegs sein kann, sondern auch den eigenen Verstand, das richtige Wissen und die Erfahrung walten lassen sollte.“ Mit Kopf und Bauch unterwegs sein, heisst dies für mich. Planen zu Hause, Wetterbericht und Lawinenbulletin studieren, und vor Ort die aktuelle Situation sichten und einschätzen. Seit Weihnachten sind alleine in unserem Land zwölf Tote in Lawinenniedergängen zu beklagen. Sämtliche Unfälle ereigneten sich in der Gefahrenstufe drei und vier – also erheblich und gross – und in Hangneigungen zwischen 35 und 45 Grad. Das Risiko für Tourengänger ist nicht zu unterschätzen. Ich habe grossen Respekt; vor der Natur sowieso, vor den Schneeverhältnissen je länger je mehr.

Heuberge 01 2014 Lawinenkurs (35)
Heuberge 01 2014 Lawinenkurs (29)

Unser Bergführer lässt jeden eigens spuren, denn, so sagt er, wer immer im Vorgespurten laufe, spüre den Schnee und damit die Begebenheiten nicht. Wir schätzen die Hangneigungen von weitem und beurteilen sie mit dem Näherkommen nochmals neu. Wir suchen die Mulden und betrachten den Schnee, wie er vom Wind seitlich verfrachtet worden ist und nun als bizarres Gebilde vor uns liegt. Im steilen Gelände mit Sicht auf den Glattwang schaufelt unser Bergführer einen Schneeblock frei, damit er uns die Schichten erklären kann. Es ist erstaunlich, wie wenig Erschütterung es braucht, um die oberste Schicht des Blockes ins Rutschen zu bringen. Neuschnee und Wind sind zwei Faktoren, die eine Lawine bilden können. Schnee, der vom Wind verblasen wird, kann sich in windgeschützten Mulden ablagern und so einen gefährlichen Triebschneesack bilden. Dies und vieles mehr wird uns in Mutter Natur vor Augen geführt. Es zeigt sich aber auch: Der wichtigste Faktor ist der Mensch, denn neunzig Prozent aller Lawinen lösen die Berggänger selber aus.
Aus gutem Grund bin ich ein weiteres Mal am Kurs gewesen: Ich möchte noch die eine oder andere Skitour unternehmen und abends gesund heimkehren. Ein Restrisiko bleibt. Aber wir können es so gering als möglich halten.

Servus!

Wir hatten gehofft, es möge nochmals schneien, bevor wir uns auf den Weg Richtung Osten machen. Aber der Bregenzerwald zeigte sich im mehrheitlich grünen Kleid, während es in unseren Alpenkämmen haufenweise Schnee hingeworfen hatte. © Annette Frommherz

Wir liessen uns im neu eröffneten Gasthaus Hubertus im Hinteren Bregenzerwald einquartieren; in Au, einem Dorf mit tausendsiebenhundert Einwohnern, von denen die meisten mit dem Tourismus ihre Brötchen verdienen. Geschlechter wie Moosbrugger und Beer sind in dieser Landsgemeinde stark vertreten, sodass der Verdacht aufkommt, man überschreite hier als Eingeborener kaum die Gemeindegrenze.
Der Bregenzerwald wird als der Schneegarant gerühmt. Doch so sehr wir morgens unsere Nasen an den Fensterscheiben plattdrückten, so wenig hatte es über Nacht geschneit. Wir mussten uns mit dem Weiss zufrieden geben, das uns die Gegend zu bieten hatte, und das war nicht eben viel. Mit ihrem hübschesten Lächeln schwindelte uns die Rezeptionistin siebzig Zentimeter Schnee auf dem Gipfel vor. Wir meinten in der Höhe, nicht in der Breite. Das meistern sie hervorragend, die Vorarlberger, gell: Sie besitzen einen ausgeprägten Charme, von dem wir uns ein grosses Stückle abschneiden könnten.
Der ‚wälderische‘ hochalemannische Dialekt, wie er im Bregenzerwald gesprochen wird, hatten wir rasch in unsere Herzen geschlossen. Nicht grundlos werden die Vorarlberger im übrigen Österreich oft scherzhaft als ‚Gsiberger‘ bezeichnet. Dies rührt daher, dass sie beispielsweise ‚i bin gsi‘ anstelle des ‚i war‘ verwenden. Nicht nur damit grenzen sie sich von den bairischen Dialekten Österreichs ab.
Mit ‚servus!‘ wurden wir begrüsst, als würden uns sämtliche alte Bekannte über den Weg laufen. Und mit ‚pfüet di!‘ wurden wir auf unseren Wegen, wohin auch immer, begleitet. Zum Beispiel auf den Klippern von Damüls aus, wo wir auf den knapp über zweitausend Metern Schneeverhältnisse vorfanden, die man durchaus als prächtig bezeichnen darf. Oder tags darauf die Güntlespitze, die wir nach tausendeinhundert Höhenmetern fanden, nachdem wir eigentlich den Sattel rechts der Üntschenspitze gesucht, aber die Abzweigung verpasst hatten. Dort oben graute mir vor der steilen Abfahrt über die Nordhänge, aber der Mann an meiner Seite liess sich nicht umstimmen; zu verlockend zeigten sich die einzelnen Wellenlinien im tiefen Schnee.
Abends durften wir die Kalorien aufnehmen, die uns tagsüber abhanden gekommen waren. Das war ein leichtes Unterfangen, gell, die Österreicher kochen gut. Um das Essen gebührend ausklingen zu lassen, gönnten wir uns ab und zu a Wässerle, das uns klar und heiss durch die Kehle rann. Das Personal war nett und fründlig, als ginge es um die Wurscht. Nicht nur den jungen Frauen standen die Dirndl hervorragend. Farbige Schürzen, eng geschnürte Taillen, die Puffärmel der weissen Blusen keck abstehend. Am besten gefiel mir diejenige, die ihre Fäuste in die Seiten stemmte und in die Backen blies, bevor sie sprach.
Doch wer meint, Freude sei nur ein Mangel an Information, der kann sich täuschen. Als das Jahr sich von der frischen Seite zeigte, fellten wir abermals unsere Skier. Am Ausgangspunkt Jägerstüble stiegen wir von der Furkajochstrasse aus auf den Portlakopf. Nur einem weiteren Unbeirrbaren begegneten wir, der sich ebenfalls nicht um das trübe Wetter scherte. Obwohl die paar Höhenmeter keineswegs einen Kaiserschmarren rechtfertigt hätten, genehmigten wir uns nachher einen.
Auf unserem Heimweg über das Grosse Walsertal wählten wir als letzten kleinen Abstecher das Zafernhorn, das wir von Fontanella aus in Angriff nahmen. Bis zum Gipfel sah es gar nach Bündt, nach Wiese aus, es fehlten nur die weidenden Kühe. Wir schenkten uns den Rest, setzten uns vor eine Hütte, sogen in aller Stille ein, was gewesen, und schauten ins Tal, wo das Leben seinen Lauf nahm. Servus! Pfüet di! Schön wars!

Fönsturm am Bachtel

Bevor es mir zuviel wurde mit den weihnächtlichen Beschäftigungen, kramte ich meine Gedanken zusammen, um sie zu sortieren. Das geht am besten in der Natur. © Annette Frommherz

Der Fönwind trieb die Wolken an. Ich hatte es am Morgen vom Küchenfenster aus gesehen, alles stehen und liegen gelassen und mir die Joggingschuhe angezogen. Nach dem Weihnachtsschmaus würde mir eine Runde am Bachtel wohl bekommen. Mein Knie fragte ich nicht nach seinem Befinden; ich ging davon aus, dass es den Drang nach Bewegung ebenso verspürte.
Zum lauen Morgen gesellte sich die Sonne zwischen Wolkenbändern. Ich war zur frühen Stunde alleine unterwegs. Erst kurz vor dem Bachtelturm kam mir eine ältere Frau entgegen, mit den Wanderstöcken weit ausholend. Wir begrüssten uns wie zwei alte Bekannte. Herrlich sei es hier, so ohne Ausflüglerstrom, beinahe ‚muusbeielei‘ seien wir unterwegs, bestätigten wir uns gegenseitig. Die einhundertsechsundsechzig Stufen zur Plattform des Bachtelturms stieg ich ohne Pause hoch. Schon oft war ich da oben alleine gestanden, auch mitten in der Nacht. Bei Tag hat es den Vorteil, dass man den Grossen Mythen besser sichten kann, von dem ich frühmorgens in Hohlers Buch gelesen hatte. „Gleis 4“, sein neuestes, und anfangs des Buches war mir, der Franz käme ganz ohne Berge aus und begnüge sich mit Bahnhöfen. Weit gefehlt.
Speer und Vrenelis Gärtli lieferten sich ein Versteckspiel hinter Wolken, hie und da mischte sich auch der Federispitz in das Geschehen ein. Mich frierte im zünftigen Wind. Ich drehte mich um die eigene Achse, um das Panorama in meine Erinnerung zu pflanzen, und machte kehrt. Den Weg hinunter stoppte mich der Schmerz im Knie. Ich verlangsamte und trippelte sachte bis nach Oberorn, wo ich die leichte Anhöhe ins gegenüberliegende Wäldchen unter die Füsse nahm. Frisch gefällte Baumstämme stapelten sich am Wegrand und waren in Leuchtfarbe angeschrieben mit „Honegger“ und „Ferienhaus“, wo der Vorrat an Holz bestimmt für die nächsten vierzehn Winter reichen wird.
Später setzte ich mich auf eine Bank, auf der ich schon vor dreiundzwanzig Jahren gesessen und das Lebkuchenherz zurückgewiesen hatte, auf dem in Schnüerlischrift geschrieben stand: „Annette, ich liebe dich“. Wie ich nun da sass und mir der Fön die Augen tränen liess, wurde mir bewusst, dass mich weder mein Hausberg noch der stürmische Wind hinausgetrieben hatten. Es waren die Gedanken, die sich Ende Jahr breitmachen und mit ihnen die unbeantworteten Fragen des Daseins. Wie viele Menschen hatte ich wohl das Jahr über vertröstet mit „ich melde mich bald“ oder „ich rufe dich zurück“ oder „wir unternehmen nächstens etwas zusammen“? Wen hatte ich enttäuscht? Was hätte ich besser sein lassen? Was hat mir gefehlt? Um mich von den wesentlichsten Themen abzuwenden und mich mit anderen, wenn auch durchaus bedeutsamen Fragen auseinanderzusetzen, fragte ich die dunkle Wolkendecke, die von Westen her rasch näher kam, was man wohl mit einem zurückgewiesenen Lebkuchenherzen anstelle. Wolken geben selten Antwort, so auch heute, und ich bot mir die Varianten von Antworten selber an:
a) Man wirft das Lebkuchenherz in den nächsten Abfalleimer.
b) Man isst das Lebkuchenherz selber.
c) Man kratzt von der Zuckerschrift den Namen der Zurückweisenden ab und schenkt das Herz bei der nächsten Gelegenheit weiter.
Würde man mich fragen: ich nähme die zweite Variante. Aber mich fragt ja keiner.