Es gibt sie noch, auch in jüngerer Gestalt: Eingeborene, die so treffend ins Landschaftsbild passen wie ein Alpaufzug am Berg. Mir ist ein solcher Einheimischer begegnet. Ein waschechter Giel eben. © Annette Frommherz
Der Giel, also ein junger Mann, ist in diesem Falle ein Mittzwanziger. Meine Nichte hatte ihn vor nicht allzu langer Zeit angelacht, und seither gehen sie gemeinsam des Weges. Im hintersten Dorf des Simmentals haben sich die Beiden ein Nestchen eingerichtet; dort, wo der Giel geboren und aufgewachsen ist. Während meine Nichte dem Tourismus unter die Arme greift, arbeitet der Giel als gestandener Handwerker.
So weit, so gut. Gestern noch wanderten meine Nichte und ich von der Iffigenalp aus auf die Wildhornhütte. Die Regenwand hatte sich nachmittags bedrohlich dunkel vor uns erhoben, liess aber die schweren Tropfen erst niederprasseln, als wir bereits wieder im Trockenen sassen. Tags darauf, es war Sonntag, baten im Dorf die Glocken zum Kirchgang. Wir hingegen assen weiter von der feinen Züpfe und spielten „Wer bin ich“ (ich war Pippi Langstrumpf, meine Nichte irgendein norwegischer Langläufer und der Giel Barack Obama). Als wir später auf den Betelberg gondelten, schob die Sonne die Wolken gespenstisch vor sich her. Der Alprundweg bot am Gebirgskamm eine Kraterlandschaft, als würde man den Mond betreten. Trichterförmige Vertiefungen, sogenannte Dolinen, die als wertvolle Biotope gelten, wie ich auf den Tafeln des Erlebnispfades lesen konnte.
Wie wir so des schmalen Pfades liefen, vernahm ich hinter mir ein Räuspern, ein leises Summen, und gleich darauf floss eine volle Stimme in den späten Sommertag:
Nur eis Blüemli cha Freud mache / nur eis Wort, das länget scho / es bruucht bestimmt nid grossi Sache / es muess eifach vo Härze cho / ts allerchlinschte Örtli zeigt / ts Gröscht, wos git, isch Dankbarkeit. Der Giel sang die Strophe aus tiefstem Herzen und hängte einen Jodel an. Ich setzte mit ein. Die Hände in den Hosentaschen und den Blick über die Moorlandschaft schweifend, hatte der Blondschopf Zeit und Musse für sich gepachtet.
Apropos Zeit: Wenn den Gielen und Modis im Simmental die Arbeit bis zum Halse steht, so nennen sie das „z Füdle vou z tüe“, was ich aus Gründen politischer Korrektheit nicht ins saubere Deutsch übersetzen möchte. In städtischen Gebieten und in der Agglomeration wird das karge Wort „Stress“ verwendet. Das hört sich im Vergleich zum Berner Ausdruck weder melodisch noch dramatisch an, sondern einfach nur einsilbig und fade. Aber zurück zum Giel, der nun die nächste Strophe zum Besten gab:
I tarf läbe i de Bärge / i cha da deheime sy / uf däm Fläckli Heimaterde / darfsch du säge, du bisch mi / drum bi i o gärn bereit / um dir z zeige Dankbarkeit. Hätte er dazu die Schweizer Fahne geschwungen, mich hätte es nicht gewundert.
Zurück in der warmen Stube, gab er noch eins drauf. Darf ich? fragte er und zog unter dem Tisch ein Schwyzerörgeli hervor. Er durfte, gerne. Und während ich seinen flinken Fingern zusah und der Polka lauschte, sinnierte ich darüber nach, mit welch grosser Heimatliebe der Giel hier ausgerüstet war. Doch eigentlich fehlt mir die Zeit, dies alles niederzuschreiben, denn ich habe noch z Füdle vou z tüe.
Lied „Dankbarkeit“ von Franz Stadelmann (Schweizer Jodler, Komponist und Volksmusikant)