Lobe die Natur!

„Grüss Gott“ hiess es von allen Seiten. Kein Zweifel: wir hielten uns in der italienischen Provinz Südtirol auf, wo das Volk gottergeben und freundlich ist. © Annette Frommherz

Im Eingang des Hotels hatten sie dem Jesus einen Lorbeerzweig in den Nacken gelegt. Auch über dem Bett hing er, ans Kreuz genagelt. Ich erlöste ihn und legte ihn behutsam in die Schublade des Nachttischchens. Unseren Sünden sollte er nicht zuschauen müssen. Dem Heiland begegneten wir auf unseren Skitouren immer wieder. Meist hing er im Freien an einem Kreuz, freilich überdacht, damit es nicht auf sein Haupt schneie.

Am Dreiländereck Italien Österreich Schweiz liegt der Reschensee, aus dem der alte Kirchturm von Graun ragt, nachdem vor über sechzig Jahren der alte Dorfkern geflutet wurde und sich die Bewohner ohne Pardon weiter oben neu ansiedeln mussten.
Ins Langtauferertal zweigt man vom Vinschgautal ab, und uns war, als führen wir in eine andere Welt. Ein paar Häuser, irgendwann hingewürfelt, nur die Kirche ganz bewusst in die Mitte gesetzt. Ein von der Zivilisation abgeschiedenes Tal mit steilen Lärchenhängen. Eine Gegend, wo die wenigen Einwohner gelernt haben, dem Fortschritt und der rauen Umgebung zu trotzen.

Überall liessen sie Gott grüssen, die freundlichen Menschen, aber wir trafen ihn nirgends. Dennoch hoffte ich, er möge uns beschützen in der einsamen weissen Welt da oben. Wir erinnerten uns an die Eigenverantwortung, prüften vorsichtshalber nochmals das LVS und packten Sonde und Schaufel ein.
Tags zuvor waren wir auf den Äusseren Nockenkopf getourt, um vom Gipfel aus einen Blick hinüber in die Schweiz zu erhaschen. Nun reizte uns der weisse Weg zum Glockhauser, ein fescher Dreitausender. Gleich vor dem Gasthaus konnten wir die Skier schnallen. Der Tag hatte uns fast sehnsüchtig erwartet und die Sonne mochte sich daran erinnern, dass ich ein Sonnenkind war. Herrlich knirschte der Schnee unter den Brettern, als wir nach der Melager Alm bergwärts spurten. In der Gleichmässigkeit der Schritte fiel ich bald in ein dynamisches Atmen, das mir Gelegenheit bot, in meinen Gedanken zu versinken.


Während wir uns immer höher und näher zum Gipfel bewegten, folgten wir einer freien Eingebung, die uns die zehn Gebote etwas anders und ohne ernstzunehmende Dringlichkeit aufsetzen liess.
Die zehn Gebote für Skitouren:
1. Respektiere die Gesetze der Natur, auch wenn es schwer fällt.
2. Vertraue deinem Partner, aber nicht blind.
3. Vergiss nicht, deine Ohren einzucremen.
4. Nimm Rücksicht auf deine Liebste und schaue, dass es ihr gefällt.
5. Schätze dich glücklich, die Natur erleben zu dürfen – solange sie noch da ist.
6. Teile deine Kräfte ein; man weiss nie, ob der Partner noch einen weiteren Gipfel im Visier hat.
7. Vergiss nie den Gipfelkuss!
8. Sei rechtzeitig zum Kuchenbüffet im Hotel zurück.
9. Lobe den Tag nicht vor dem Abend – oder den Hang nicht vor der Abfahrt.
10. Ehre den Schnee, ehe er schmilzt.

Auf dem Glockhauser fegte der Wind streng um unsere Häupter. Wir richteten den Blick hinüber zum Weisskugel, zum Bärenbartkogel und zum Grossen Schafkopf und konnten uns nicht entscheiden, welcher denn der schönste dieser Berge sei.
Die Natur hatte all die Tage ein glitzernes Mäntelchen über die Matten und Hänge gelegt und uns die schönsten Tiefschneeabfahrten geschenkt. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit – in Ewigkeit, so hofften wir. Bevor wir über den Ofenpass zurück in die kleine Schweiz fuhren, versäumte ich nicht, den Jesus wieder an seinen Platz zu hängen.

Auf General Suworows Spuren

Der Gamperstock im urnerischen Schächental diente einst als Schauplatz eines Feldzuges, pardon, eines Bergzuges. Sie war nicht ruhmreich, die Alpenquerung unter seiner Generalität Alexander Wassiljewitsch Suworow-Rymnikski. Aber von Bedeutung. © Annette Frommherz

Geschichte war mir ein Schulfach mit Fensterplatz. Nun fällt oben auf der Chinzig Chulm der Name Suworow, und was damals in der Schule verpasst worden war, muss abends unter google nachgeschaut werden.
Schwere Mäntel und kniehohe Stiefel trugen wir nicht, als wir in Ratzi unsere wasserdichten High-Tech-Rucksäcke schulterten. Die Maultiere lassen auf sich warten wie damals, als der russische Herr General vergeblich auf die versprochenen Lasttiere gewartet hatte, was sich schliesslich verhängnisvoll auswirken sollte. «Bi iis isch eppis los» wirbt heute der Schächentaler Tourismus. Es bleibt demnach alles beim Alten.

Wir sind ausgeruht. Wir mussten tags zuvor weder den Durchgang durchs Urnerloch erzwingen noch um die Teufelsbrücke kämpfen. Unser Bettlager war nächtens warm und weich und kaum zu vergleichen mit dem harten und kalten Unterboden, der Suworows Truppe – immerhin 21‘000 Mann – als Nachtlager dienen musste. 1799 war das, Ende September. Das Gros der Armee zog bei Regen und mit zerfetztem Schuhwerk während zwei Tagen über den Kinzigpass Richtung Muotatal. Suworow selber, der faule Hund, wurde von Urner Bauern in einer Sänfte vom Kinzig herabgetragen. Nicht nur Mannsbilder, auch 6‘000 Pferde zogen über die schwierigen Gebirgspfade, und ich versuche mir nicht auszumalen, wie viele Mannen und Gäule über die Felsen gestürzt sein mussten.

Suworows Rechnung ging nicht auf. Eigentlich wollte er mit seinen Verbündeten – den Österreichern und den Engländern – die Franzosen einkreisen, die kurz davor mit ihrem Einmarsch in die Eidgenossenschaft den Einheitsstaat ‚Helvetische Republik‘ geschaffen hatten. Aber ohne Brot im Mantelsack, mit einer geschwächten Truppe und mit den fehlenden Maultieren liess es sich viel zu spät ins Muotatal einmarschieren. Pech gehabt, auch mit der Truppe. Bis Chur fehlten rund 6‘000 Mann – irgendwo in Abgründen und an Wegrändern waren sie unterwegs liegen geblieben; abgestürzt, verhungert oder vor Erschöpfung zusammengebrochen.
Und so nimmt jede Geschichte einen anderen Verlauf als sie hätte nehmen können. Auch unsere. Denn was von unserer SAC-Sektion als Schneeschuhtour ausgeschrieben worden war, wurde zur Bergtour mit Steigeisen. Die Natur ist eigenwillig und lässt sich schwerlich dirigieren.
Dem Gamperstock ist nicht anzusehen, was er vor zweihundertdreizehn Jahren zur Schweizer Geschichte beitrug. Auf dem Gipfel steht, als wäre nichts gewesen, das metallene Kreuz mit dem Gipfelbuch, in dem Suworow keine Nachricht hinterlassen hat.
Clariden und Schärhorn thronen unberührt, als ging sie das alles nichts an. Bergab meistern wir den steilen Gipfelrücken mit Steigeisen. Später stehen wir auf einem weitläufigen Karrfeld und wünschen uns Sänften. Unser Tourenleiter murmelt etwas von partizipierendem Führungsstil und lässt abstimmen, ob dem Grat entlang gegangen werden soll oder das Karrfeld siegt, wo unter dem Schnee die Felsspalten lauern. Sechs zu eins für die zweite Option, weiss der Teufel weshalb. In der Folge sinken wir stellenweise tief ein; die einen mit einem entrückten Aufschrei, andere in stummer Ergebenheit. Vorwärts zu kommen gestaltet sich mühsam und kostet uns eine Menge Kraft; im Nachhinein ist es aber wohl kaum zu vergleichen mit den Strapazen von Suworows Armee. Dennoch: wir sind froh, als wir endlich wieder festeren Boden unter den Bergschuhen haben.
Unsere Tour wird mit Sicherheit nicht in die Geschichte eingehen. Was uns nicht weiter stört. Dafür haben wir keine Opfer zu beklagen.

Des Glückes eigener Schmied

Glücklich sein ist so eine Sache. Im Nachhinein verstehe ich nicht, weshalb ich mich damit so schwer tat. © Annette Frommherz

Es hätte kein sonnigerer und milderer Tag werden können. Meteorologen schwärmten schlechthin vom wärmsten Oktoberwochenende seit Messbeginn. Skeptiker verzogen das Gesicht und machten die Erderwärmung dafür verantwortlich. Die Optimisten hingegen schlossen die Haustüre ab und suchten das Weite in der Sonne. So auch ich.
Dass der Druesberg im Hoch-Ybrig hinten noch ein wenig Schnee am Gipfel drapiert haben könnte, kam mir nicht in den Sinn – weiter unten war ja noch fast Sommer. Viel war es nicht, aber genug, damit ich zögerte. Eine schmale Stelle, nur knapp vor dem Gipfel, rechts der Fels, links der Abgrund – in meiner Wahrnehmung hinunter bis tief in die Unendlichkeit. Der Pfad war schneebedeckt und ich nicht mutig genug, darüber zu gehen. Ich hätte den Blick einfach geradeaus richten müssen, dachte ich verärgert weiter unten, nachdem ich rechtsumkehrt gemacht hatte. Der Hinweg ist das eine, der Rückweg das andere, und zudem bin ich alleine unterwegs, versuchte ich mir gut zuzureden. Und trotzdem. Du Weichei, schimpfte ich mich, du Mimose! Die Vernunft hat gesiegt, tröstete ich mich postwendend. Anstatt mich zu freuen ob der fantastischen Aussicht, haderte ich mit mir und meinem Entscheid. Ich verpasste damit das Glück.

Heute habe ich es nachgeholt. Aus dem Nebel heraus bin ich auf den Bachtel gerannt, mitten in die Morgensonne, unter mir das Nebelmeer. Immer im Blickfeld den Bachtelturm, der mich erwartete, als käme ich jeden Montagmorgen zu ihm hinauf. Welke Blätter segelten in stummer Ergebenheit zur Erde und bedeckten den Boden wie einen warmen Teppich.
Ich war alleine, und ich fühlte mich nie weniger einsam als in dem Augenblick, als ich zuoberst auf der Plattform stand, schwer atmend, den Blick in die Ferne gerichtet. Vor mir, als wärs ganz nah, streckten neugierig der Grosse und der Kleine Mythen ihre Spitzen aus dem weissen Tüll, und irgendwie war die Welt nur noch friedlich. Der Fön liess meine Augen tränen. Vielleicht war es auch das Glück.

Entscheiden

Wandern oder die Ausstellung besuchen? Biken oder fauler Sonntag? Das Wetter hilft uns entscheiden. © Annette Frommherz

Die Ausstellung ‚Entscheiden‘ im Stapferhaus Lenzburg wollen wir unbedingt besuchen, doch das gute Wetter spricht dagegen. Damit gewinnt für heute der Federispitz das Rennen. Wir machen gleich Nägel mit Köpfen. Zwischen Schänis und Kaltbrunn biegen wir ab und fahren bis zur Obermatt, wo der Pfad gleich richtig steil den Hang hinauf führt. Matschig nach dem Dauerregen, erarbeiten wir uns jeden Höhenmeter. Der Herbst dringt kühl zwischen Tannen und Laubbäumen hindurch und lässt die Pilze aus dem feuchten Boden und sogar aus Baumstämmen schiessen. Wie wir Richtung Alp Beischnaten stapfen, unterhalten wir uns über Entscheidendes und weniger Bedenkliches.
Wir leben im Supermarkt der Möglichkeiten, heisst es auf der Homepage des Stapferhauses. Richtig. Aber nichts ist einfacher geworden, seit wir selber entscheiden können, wann wir sterben wollen.
Im Federiwald machen wir auf dem schmalen Pfad Platz für einen älteren Mann, der uns entgegen kommt und um dessen Hals ein Fernglas baumelt. Was man damit so sehe, frage ich ihn. «Die Weitsicht», brummelt er, die Krumme zwischen die Lippen geklemmt. «Sieht man vom Gipfel bis in die Berner Alpen?» fragen wir. «Natürlich!» sagt er, «sogar bis zum Mythen sieht man!» Der Mann hat Humor. Oder aber er meint es ernst. Bevor wir uns entscheiden wollen, was von beidem zutrifft, hebt er die Hand zum Gruss, zieht an der Krummen und von dannen.
Die Qual der Wahl trifft jeden. Das fängt schon damit an, dass man nicht einfach ein Rivella bestellen kann. Rot, blau oder grün? Oder einen Kaffee. Latte Macchiato, Cappuccino, Kaffee Crème oder Espresso? In diesem Punkt allerdings ist in der Federihütte schnell entschieden: Es gibt die braune Brühe im Chacheli. Welche Nascherei wir dazu wählen sollen, bleibt uns ebenso erspart: es hat nur noch Zitronencake und Birnweggen. Wir nehmen beides.
Auf dem Gipfel des Federispitz bläst uns der Wind unanständig garstig um die Ohren. Wir überblicken die kleine Welt da unten und schauen schweigend in die weite Weite. Den Glärnisch haben sie eingepackt, andere Gipfel geben sich beschaulich. Weiter unten wintert ein Mann im Gnägileibchen sein Hüttchen ein. Morgen soll hier Schnee liegen, wird erzählt.

Herzlich herbstlich

Jetzt, wo er wieder zeitlos tut, lässt es sich wunderbar darüber dichten. So dicht ist er, so verblüffend eigenwillig. Ich mag den Herbst, immer mehr. © Annette Frommherz

golden kommt der Herbst daher
lässt die Blätter schweben
sagt, ich bin auch irgendwer
und muss den Wind erheben

tut, als sei ihm Ruhm gewiss
und holt die Nebelschwaden
deckt damit zum Ärgernis
die Häuser samt den Gaden

der Herbst, er ist ein eigen’ Kerl
kann sich nie beherrschen
weiss, wenn er denn etwas will
wird er es erforschen

verspricht uns Sturm und kurze Tage
will uns zeigen, was er kann
den Sommer kannten wir nur vage
zeigte sich mal dann und wann

Herbst, du lässt dir gar nichts sagen
magst kein einz’ges Eigentor
wo andre kaum noch Schritte wagen
stellst du eine Stunde vor

die Würde, die so manchem fehlt
die ist dir gewiss
einem, der wie du beseelt
dem traue und vergiss

Herbst, du bist ein Wunderkind
lässt uns ruhig werden
zeigst uns, bis wir leise sind
die Farben hier auf Erden

Futterneid

Keep wild climbing ist auf dem Wanderpfad am Speer nicht angesagt, und die knappe Hälfte eines Viertausenders zählt nichts. Trotzdem hat uns der Berg ganz zufrieden gemacht. © Annette Frommherz

Nur neunundvierzig Meter haben uns gefehlt, und wir hätten einen Zweitausender geschafft. Aber auch das würde nach nichts tönen und käme in keiner Weise an einen Viertausender heran. Hoch hinaus sind wir mit der Besteigung des Speers nicht gekommen, meine Freundin und ich.

Ganz anders mein Liebster, der sich gestern mit einem Bergfreund auf zum keep wild climbing, also dem Klettern ohne Spuren, machte. Das tönt toll und trendy: keep wild climbing! Dabei kannte die frühere Generation der Bergsteiger nichts anderes. Ohne fix abgesicherte Routen stiegen sie die Berge hinauf. Daheim sagten sie nur: «Ich gange z’Berg» und schulterten ihre Hanfseile. Heute nennt sich dasselbe keep wild climbing. Am Ostgrat des Pizzo Fiorasca waren sie. Ein bisschen neidisch bin ich schon.

Aber immerhin: der Speer ist der höchste Nagelfluh-Berg Europas. Das macht ihm der Pizzo Fiorasca nicht nach. Meine Freundin und mich drängte keine innovative Herausforderung, wir hatten weder Sehnsucht nach Adrenalin, noch sehnten wir uns nach einer eigenen Route – und schon gar nicht nach einer Erstbegehung. Wir wollten endlich etwas Zeit, um zusammen an der frischen Luft unterwegs zu sein und zu plaudern. Nur ab und zu dachte ich mit etwas Wehmut an meinen Liebsten und dessen Freund, die den Ostgrat des Pizzo Fiorasca bestimmt ganz für sich alleine hatten; wie Marco Volken und Christoph Blum im 2009, als sie sich erstmals dort hinaufwagten. Meine Freundin und ich teilten uns den Gipfel des Speers mit schätzungsweise vierundzwanzig anderen Berglern und drei Hunden, die uns den Servelat stehlen wollten. Aber sonst gefiel es uns da oben. Der Speer hat neben dem Gipfelkreuz auch ein Gipfelbuch, was der Pizzo Fiorasca mit Sicherheit nicht bieten kann. Und über schlechtes Wetter brauchten wir nicht zu klagen; wir konnten die Rundsicht in den höchsten Tönen loben. Mit stiller Genugtuung erfuhr ich später, dass die zwei Jungs meist im dicken Nebel wildclimbten. Wir, meine Freundin und ich, hatten es gemütlich und konnten uns an den gelben Wanderschildern orientieren. Keine einzige Route mussten wir suchen, alles lag schön vor uns ausgebreitet. Stau am Gotthard? Von wegen! Uns blieb noch Zeit für einen Höhenluft-Kaffee, wie ich die braune Brühe in den Hütten jeweils nenne. Und wir waren eine ganze Weile vor Beginn des Tatorts zu Hause. Nein, uns ging es gut, wirklich. Nur ein kleiner unbedeutender Neid vielleicht, der in mir brütet, aber eigentlich ist es nicht der Rede wert.

Weil wir, obwohl wir uns darum bemühten, kein spektakuläres Bild von der Gegend schiessen konnten, habe ich eines gestohlen. Eines, das mir mein Liebster spätabends in meinen Mail-Briefkasten legte. Ich will es niemandem vorenthalten.

Spinnweben und alte Weiber

Normalerweise tue ich mich schwer mit dem Ausdruck ‚Weiber’. Steht er aber im Zusammenhang mit dem ausklingenden Sommer, kann ich mich bestens damit anfreunden. Der Altweibersommer ist da. © Annette Frommherz

Als warmes Ausklingen des Sommers wird der Altweibersommer bezeichnet, als einen ‚Zeitabschnitt gleichmässiger Witterung im Spätjahr’, wie uns Wikipedia etwas trocken zu erklären versucht. Dabei hängt der Wortteil ‚Weiber’ gar nicht wirklich mit uns Frauen zusammen, sondern leitet sich ab von Spinnfäden, mit denen eine Spinnenart im Herbst durch die Luft segelt. Mit ‚weiben’ wurde früher das Knüpfen der Spinnweben bezeichnet. Spinnweben nennt man ja auch Liebfrauenhaar, was um einiges lieblicher daherkommt. Damit ertrage ich die herbstlichen Spinnenweben, die sich im Garten in meinem Gesicht verfangen, viel besser.

Aber item. Von Belehrendem hin zu den Tatsachen, zu den Bergen, die da stehen und sich herzlich wenig um Jahreszeiten und Spinnweben kümmern. Der Mattstock zum Beispiel. Wir können uns voll darauf verlassen, dass die Kletterrouten im Sektor der Südostwand-Platte noch vorhanden sind, und mit ihnen der Fels, der von Wasserrillen zerfressen ist und wenig wirklich handliche Griffe bietet. Klettern auf Reibung ist eine Angelegenheit, auf die ich mich stets aufs Neue einstellen muss. Ein ausgezeichnetes mentales Training: sich bestätigen zu lassen, dass der Kletterschuh auf dem glatten Fels hält. Er hält, obwohl ich es auch diesmal nicht glauben wollte. Eine Erkenntnis, die sich wiederholt, jedenfalls bei mir, und mich einmal mehr in Staunen versetzt.

Die späte Sommersonne heizt gehörig ein. Bergdohlen umkreisen uns mit höhnischem Krächzen, weshalb wir nicht einfach fliegen, anstatt uns ächzend den Fels hinauf zu mühen. Ich würdige sie keines Blickes. Auf dem Gipfel, nach der fünften Seillänge, setzen wir uns auf die Felsblöcke und sichten all die Bergherrlichkeiten um uns: im Rücken der Federispitz und der Speer, vor uns der Gulmen und die Gipfelreihen der Churfirsten, neben uns der Mürtschenstock. Von den unzähligen weiteren Mächtigen in der Ferne ganz zu schweigen.
Unter uns ruht sonntäglich der Walensee und trübt kein Wässerchen. Ein Ausflugsschiff muss es sein, das sich auf dieser Pfütze wie ein unbedeutend kleines, weisses Objekt vorwärtsbewegt. Die Welt ist winzig, so von oben betrachtet, und damit unwichtig. Diesen Gedanken nehme ich mit nach unten, als wir uns wie Spinnen an Fäden über die Felsenplatten abseilen.

Vreni findet ihren Garten

Sie weiss zwar ungefähr, wo der Garten zu suchen ist, aber bisher hat sie sich nicht auf den Weg dahin gemacht. Es wird Zeit. Wie das Schicksal sonst noch zuschlägt, darüber sei hier erzählt. © Annette Frommherz

Geredet hatte sie schon des längeren davon, einmal zu dem Garten zu gelangen, wo ihre Namensvetterin vor manchen Jahren hinaufgestapft sein soll. Das Vreni und ihr Gatte sind noch auf keiner Hochtour gewesen. Der Garten des Vreneli zieht beide magisch in den Bann. Wenn schon, denn schon dieser Berg – nomen est omen. Für meinen Liebsten und mich ist die Tour eine Wiederholung, doch Wiederholungen in den Bergen gibt es eigentlich nicht, nur Vergleiche zu den letzten Touren. Die Bedingungen sind meist anders; das Wetter ändert sich und damit die Verhältnisse auf Pfaden, Gletschern und Graten.

Mein erster Versuch, zum Gipfel des Vrenelisgärtli zu gelangen, scheiterte vor drei Jahren durch ein heftiges Gewitter. Mein damaliger Begleiter und ich mussten seinerzeit auf dem Glärnischgletscher umkehren. Wir schworen uns, es ein anderes Mal zu versuchen, und verschoben den Gipfelkuss. Aus dem Schwur wurde nichts; ein Jahr später stand ich mit meinem Liebsten auf dem Gipfel.
Zwei Jahre später kehren wir zurück zu diesem Glarner Berg, diesmal gleich mit dem Vreni, das ich die letzten beiden Male umsonst gesucht hatte. Unsere Bikes stehen unten beim Alpgebäude für den Heimweg bereit, damit wir unsere Füsse von der Chäserenalp zum Klöntalersee nicht noch heisser werden lassen müssen. Durch das Rossmattertal gelangen wir zu viert zur Glärnischhütte, wo nach dem Wochenende Ruhe eingekehrt ist. Nur ein paar wenige wollen sich den nächsten angekündigten Prachtstag nicht entgehen lassen. Dass unter diesen auch derjenige ist, mit dem ich damals den Schwur tat, ist die Ironie des Schicksals, dem wir uns gerne fügen. Das Wiedersehen ist freudig. Er wird anderntags mit seinen zwei Gästen zum Gipfel schreiten.
Vreni und ihr Mann sind mit den Steigeisen und dem Klettergurt schnell vertraut, und sie laufen am nächsten Morgen am Seil über den Gletscher, als wäre es nicht ihr erstes Mal. Ihr Staunen über die Gletschermasse, die Gipfel und die Weite rundherum lässt mich die Zeit zurückdrehen, in der es auch für mich ein erstes Mal bedeutete. Viel geändert hat sich nicht: ich staune noch immer, jedes Mal aufs Neue. Der Schwändigrat ist vollständig aper; letztes Mal empfing er uns mit harschem Schnee. So oder so: auch diesmal bereitet mir die Ausgesetztheit schnelleren Puls, und ich muss mich an der einen oder anderen Stelle zwingen, ruhig zu bleiben und durchzuatmen. Die beiden ‚Neuen’ dagegen tun so, als wäre es ihr täglich’ Brot. Ich hätte schwören können, dass sie wochenlang heimlich geübt haben.
So findet Vreni ihren Garten, und es ist mit Sicherheit ein Garten Eden, so glücklich wie sie aussieht da oben. Ich für meinen Teil darf auf dem Gipfel neben meinem Liebsten auch den Schwurkumpanen von damals küssen, selbst wenn wir heute in getrennter Seilschaft auf den Gipfel gefunden haben. Das Schicksal will es so.
Und weil das Vreni und ihr Mann zugunsten des Vrenelisgärtli auf die Chilbi verzichtet haben, lassen wir bald die Überraschungskatze aus dem Sack: Magenbrot, gebrannte Mandeln und Nideltäfeli. Chilbi mit dem Vreni, und das in ihrem Garten!

Auszeit – Eiszeit

Fünf Tage auf Gletschern unterwegs. Fünf Tage weg von allem, was nach Alltag riecht. Fünf Tage können lang und nass werden, denke ich, während auf dem Jungfraufirn ein Gewitter auf uns niederprasselt. Doch danach wird alles gut. © Annette Frommherz

Jungfraujoch – Aletschgletscher – Konkordiaplatz – Konkordiahütte
Als der Bergführer sieht, dass ich den Achterknoten binde, befördert er mich kurzerhand zur Aspirantin. Noch weiss er nicht, dass ich auch den Doppelten Bulin beherrsche… Ab jetzt ‚führe’ ich also meine eigene Seilschaft – und werde das Seil tragen, wenn wir es nicht benötigen. Der Nebel hatte sich schon in den Tunnel der Jungfraujochbahn hereingedrückt. Bereits da ahnte ich, was kommen werde. Draussen lässt man uns bald im Regen stehen. Ein nasses Unterfangen. Die Regenjacken und -Hosen werden einem Härtetest ausgesetzt. Hörner und Jungfrauen wollen sich an diesem ersten Tag des Gletschertrekkings nicht zeigen und verstecken sich hinter der Gewitterfront, während die Gruppe sich durch Graupel in Richtung Konkordiaplatz bewegt. Die Aussicht reicht gerade mal bis zur nächsten Nebelschwade, die ungeniert sich flächendeckend breitmacht. Was nicht nass wird, ist zumindest feucht. In der Konkordiahütte wird alles, was am Körper klebt und im Rucksack nicht verschont blieb, zum Trocknen ausgebreitet.

Konkordiahütte – Grünhornlücke – Finsteraarhornhütte
Das Seil tragen ist flugs zur Tradition geworden. Dafür ist mir der spendierte Zwetschgenkuchen auf sicher. Die Sonne hat gegen den Regen gewonnen und strahlt heute in bester Sommermanier. Firn und Eis schmelzen unter unseren Bergschuhen weg. Wir wollen auf den Gletschern gehen, so lange sie noch vorhanden sind. Es knirscht im Gleichschritt unter unseren Steigeisen. Mir ist, als seien wir bereits seit Tagen unterwegs. Nicht, weil die Gletscher endlos lang sind, sondern weil ich alles weglassen kann, was mir unwesentlich scheint. Die Zeit ist hier eine andere, eine fast vergessene.
Bergdohlen umkreisen uns wie Aasgeier. Sommervögel flattern lautlos um uns. Was tun die hier in dieser Höhe, mitten auf dem Firnfeld? In der Hütte, die eher Alpengaststätte als Hütte ist, sind die Betten breiter und ist der Hunger noch grösser. Gute Nacht sagen sich hier nicht Fuchs und Hase, sondern Alpenfreunde. Es sind die Gleichgesinnten, die ihren Weg suchen. Berge, geht es mir durch den Sinn, sind Orte, an denen es sich niemand leisten kann, sich wie Hund und Katz’ zu benehmen.

Finsteraarhornhütte – Fieschergletscher – Rotloch – Oberaarjochhütte
Wo sich der Fieschergletscher und der Galmigletscher die Hand geben, da sind auch wir im Nu. Keine Wolke verunreinigt heute den blauen Himmel; wir suchen umsonst nach Herrn Schleier und Frau Cumulus. Blau und Weiss geben sich in makelloser Eintracht. So lässt es sich gut leben, und mit dem Aufstieg zum Oberaarhorn wird der Tag vollkommen; denn auf den Gletschern gibt es keinen Gipfelkuss. Später schaue ich zum Matterhorn hinüber, das in der Ferne und im Abendlicht ganz hübsch sich zeigt. Dann, in der übervoll besetzten Oberaarjochhütte, die Bergschuhe in Reih’ und Glied zum Lüften ins letzte warme Licht stellen und sich den Platz, das Bett und das Bier sichern.
Ich ziehe in Erwägung, zu Hause die stinkenden Socken auf den Nachttisch zu legen, Schnarchgeräusche abspielen zu lassen, am Fenster ein Bild mit Berggipfeln und aufgehender Sonne hinzukleben, mich in meinen Seidenschlafsack zu kuscheln und morgens ein Chacheli Incarom-Kaffee zu schlürfen – auf dass die Hüttenromantik nicht so rasch verloren gehe.

Oberaarjochhütte – Oberaargletscher – Grimsel-Passhöhe
Im Massenlager mit zwanzig Betten – ich hatte es geahnt – war an tiefen Schlaf nicht zu denken. Mit mindestens fünf gleichzeitig schnarchenden Männern in verschiedenen Tonlagen ist die Nacht träge vorüber gegangen. Frühmorgens versöhnt der Blick auf die sanft geröteten Berggipfel. Galmihörner, Finsteraarhorn, Oberaarrothorn, Wasenhorn. Alle wollen sie sich von der besten Seite zeigen. Ich kann mich kaum satt sehen.

Unsere Tour über den Oberaargletscher und entlang dem Oberaarsee dehnt sich in die Länge. Als willkommener Abstecher bietet sich das Sidelhorn an, das wir unter die Füsse nehmen, und das uns den Rundblick auf Seen und Berge bis in verwaschene Farben preisgibt. Hinunter zur Grimsel-Passhöhe ist es steil und lässt unsere Zehen taub werden. Abends findet ein reger Handel mit Diagnosen, Pflastern, Salben und Tabletten statt, und so mancher Ratschlag macht die Runde. Einer muss mit Knieschmerzen aufgeben. Ein anderer schluckt gleich zwei Schmerztabletten – eine für das linke, die andere für das rechte Knie.

Grimsel-Passhöhe – Rhônegletscher – Furka Belvèdere
Die Tour des letzten Tages führt uns über romantische Pfade erst hinauf und dann hinüber zum Rhônegletscher. Viel Aus- und Weitblick und die imposanten blauen Spaltentiefen garantieren uns bleibende Erinnerungen. Ich schliesse die Augen, um die Bilder in aller Ruhe in mein Inneres ablegen zu können.

Die Natur findet draussen statt

Ein bisschen wandern, ein wenig degustieren, ein Nickerchen in der Blumenwiese: He, es ist Sommer und schön, so ein Ferientag! © Annette Frommherz

Jedes Mal, wenn ich durch Rothenthurm fahre, denke ich zurück an die sogenannte Rothenthurm-Initiative, die mit bissigem Kampf einen Waffenplatz zu verhindern mochte. Dabei ging es den Landwirten wohl in erster Linie um die drohende Enteignung ihres Landes als um den Waffenplatz an sich. Aber wie auch immer: Das war zu jener Zeit, in der ich meine Stimme noch nicht ins Volk werfen konnte, und in der mich andere Dinge sowieso mehr beschäftigten. Und politisieren will ich hier nicht. Das überlasse ich jenen, die meinen, dies besser zu können.

Heute soll der beste Sommertag in dieser Woche sein. Und der gehört mir. Ich fahre durch das Muotatal, und die Enge lässt mich die Schultern einziehen. Wetterschmöcker lassen sich keine blicken. Sie werden wohl geschmöckt haben, dass der Nebel heute etwas länger hängen bleibt und bürsten sich im Schärmen ihre weissen Bärte.

Meine Wanderung starte ich in Eigeliswald. Nach endlosen Kurven die Pragelpassstrasse hinauf bin ich froh, endlich die Wanderpfade entlang zu ziehen. Fichten und die mit Karren durchsetzten Böden verwandeln die Natur um mich in einen Märchenlandschaft. In der Ferne ruft der Kuckuck. Weiss der Kuckuck, was der ruft. Als ich zurückrufe, verstummt er.

Auf der Alp Ober Roggenloch genehmige ich mir einen Kaffee. Den vierten Sommer chäset der Suter Beat auf dieser Alp. Käser ist er zwar schon seit dreissig Jahren, aber nach einer Ewigkeit in der industriellen Produktion hat er dieser den Rücken gekehrt. Hier gehöre er hin, sagt er. Sein Urgrossvater, erzählt er mir, kaufte das Anwesen anfangs des 20. Jahrhunderts; später bewirtschaftete es sein Grossvater. Nun ist der Nachfahre zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Ich darf dem Käser über die Schultern schauen. In seinem Chäschessi bringt er die hundertachtzig Liter Milch sorgfältig in Bewegung. Herzhaft kräftig schmeckt der Wetterfrosch-Alpkäse, den ich degustieren darf. Hölloch-Chäsli gibt es auch. Nomen est omen. Auch im hintersten Tal macht die innovative Marketing-Idee keinen Halt. Aber eigentlich bin ich ja zum wandern in diese Gegend gekommen.

Auf einen Berg zu steigen und diesen als Orientierungshilfe meist in Sichtweite zu haben, ist einfacher als eine Rundwanderung, wo jede Abzweigung einen falschen Entscheid bringen könnte. Wären all die Männer hier, die mir seit dem letzten Blog einen Gipfelkuss versprochen haben, könnte mir die Truppe den Weg weisen. So aber muss ich mich auf die Karte verlassen und auf den Kompass, den mein Liebster mir mitgegeben hat. Er kennt mich. Mein Orientierungssinn ist – gelinde gesagt – nicht besonders ausgeprägt.
Prompt verfehle ich den Weg und nutze mit dem abgekürzten Pfad die Zeitersparnis für ein Nickerchen zwischen Sumpfdotterblume (die ich viel lieber Bachbumbele nenne) und Hahnenfuss und träume, ich hätte vergessen, was Alltag bedeutet.

www.ober-roggenloch.ch