Alles hat seine Geschichte, selbst ein winziger Griff im Fels. Ein Wieder-Ertasten im steinernen Mikrokosmos.
Ein Griff ist ein Griff ist ein Griff. Gertrude Stein lässt grüssen (eine Rose ist eine Rose…). Dieser Wand ist aus Stein, doch hier wachsen keine Rosen. Allenfalls Hauswurz oder Habichtskraut. Den Griff hat einst meine Tochter entdeckt, mehr als ein Vierteljahrhundert ist’s her. Wir rangen um die Route und diese Stelle war die Crux. Hoch oben in der Wand der Halbmondgriff, den zu erreichen das Problem darstellte. Höher noch als der Mond am Himmel, so erschien er uns, so unerreichbar. Links ein abschüssiger glitschiger winziger Tritt, auf dem selbst eine Fliege den Halt verlieren würde. Wir versuchten es trotzdem, versuchten es, versuchten es und suchten, suchten. Bis meine Tochter diese winzige scharfe Braue aus Stein entdeckte, das heisst, ertastete, die wir in der Folge Krallgriff nannten. Ihre etwas zierlichen Finger passten in die Vertiefung hinter der steinernen Braue. Ich konnte meine Fingerkuppen auf die feine Kante pressen, so dass es schnitt und schmerzte aber für ein paar Sekunden Halt gab. Gerade so lange, bis ich mit etwas Dynamik hochschnellen, den Halbmond packen und einen kräftigen Seitenzug anschliessen konnte.
Damals entwickelte ich eine ganz neue Beziehung zum Fels, zum Stein. Statt den grossen Linien, den Graten und Pfeilern und Wänden begann mich der Mikrokosmos zu interessieren, die Feinstruktur, die beim Klettern zur Partitur wird. Melodie, Musik, Rhythmus, Tanz. Den Griffen und Tritten einer Crux Namen geben, hat einmal ein Kletterdidaktiker empfohlen. So kann man sich die Abläufe einprägen, die Partituren. Die Wand wird zum Text, zur Notenschrift aus Stein.
Wie oft habe ich diesen Krallgriff schon ertastet, mich an ihn gekrallt, jedes Mal wohl an meine Tochter gedacht, die jetzt gerade mit ihrem Partner und ihrem kleinen Mädchen nach Sardinien fliegt. Nein, nicht zum Klettern. So, wie das Leben halt spielt.
Ich nun spiele das Spiel an der Wand. Die Partitur, Krallgriff, abschüssiger Tritt, Dynamo, Halbmond, Seitenzug, Untergriff und dann an die Schuppe. Man hat mich gefilmt, fotografiert auf dieser Route. Doch vor einigen Wochen, da war es so weit, dass ich den Krallgriff nicht mehr krallen mochte. Es ging nicht, ich brach einen Fingernagel. Es half nichts. Der Anfang vom Ende, dachte ich. Ich schaffte die Route nicht mehr. Hatte wochenlang Alpträume, stellte mir in schlaflosen Nächten vor, wie ich da stehen würde, nochmals den Griff ertasten, nochmals versuchen den Halbmond zu erreichen, nochmals scheitern. Einmal ist es so weit, unweigerlich, es ist unvermeidlich. Der Himmel ist zu hoch für dich geworden.
Jetzt taste ich nach der Kante und sie will mir noch kleiner, noch feiner vorkommen als je. Unmöglich, denke ich, vielleicht ist da etwas abgebrochen oder gebröckelt. Ich taste nach der besten Stelle, drücke die Finger hinein, dass ich fast schreie vor Schmerz, aber ich gebe nicht auf, strecke mich, halte den Halbmond, den Untergriff, die Schuppe. Noch geht es, es geht noch. Bis zum nächsten Mal.