Die Briten eroberten bekanntlich einige Gipfel der Alpen und auch der Dolomiten – und nebenbei auch noch das Herz der einen oder anderen hübschen Tochter eines italienischen Kletterfreundes. Auch unser Rezensent hat im Herzen der Dolomiten erobert: «Una montagna di libri» mit pikanten, ungewöhnlichen und interessanten Geschichten – und sich dabei wieder einmal als ausserordenlich Sprach- und Alpingeschichtskundig erwiesen. Grazie, Daniele!
„Parto subito e passando per i Grigioni, per le Alpi di Bernina, per quelle della Valtellina e per la Val di Sole, conto di arrivare a Bassano verso il 1° o 2 settembre. Spero che voi sarete sempre disposto a fare una escursione verso l’Antelao e la Marmolata montagne che non conosciamo bene né voi né io, ma che non possono mancare di offrirci molto interesse.”
Diese Reise nach Bassano im Veneto kündigte der irische Politiker, Naturwissenschaftler, Alpinist und Publizist John Ball (1818-1889) in einem Brief vom 22. August 1855 seinem italienischen Fachkollegen Alberto Parolini an. Der Grund für die Reise in die Stadt am Südrand der Alpen lag aber nicht nur im Wunsch, die beiden höchsten Gipfel der Dolomiten zu besuchen und vielleicht auch erstmals zu besteigen – sonst hätte er ja direkt in die Berge reisen können. In Bassano wartete nämlich Elisa Parolini, die ältere Tochter von Parolini. 1856 reiste John Ball wieder nach bella Italia, am 29. November wurde geheiratet. In alpinhistorischer Sicht ist das folgende Jahr wichtiger. Am 19. September 1857 erreichte John Ball als erster den hochaufragenden Pelmo (3158 m), und zwar allein, da der begleitende Gemsjäger nicht wagte, ein ausgesetztes Felsband zu traversieren, das den Weg zum Gipfel ermöglichte; die Erstbesteigung des Pelmo gilt als Beginn des Bergsteigens in den Dolomiten. Am 22. Dezember wurde in London der Alpine Club gegründet und Ball zum ersten Präsidenten gewählt.
Die Ballschen Eroberungen sind dokumentiert in einem bestens recherchierten und illustrierten Buch, das ich im Juli in Cortina d’Ampezzo fand: „Pioneers. Alpinisti britannici sulle Dolomiti dell’Ottocento“. In 19 Kapitel präsentiert Mirco Gasparetto Geschichte und Geschichten, Figuren und Touren. Schon nur beim Durchblättern und beim Betrachten der Abbildungen merken wir, dass die britischen Pioniere wie Leslie Stephen oder Francis Fox Tuckett, die wir von den Viertausendern der Westalpen kennen, auch in den Ostalpen wichtige Spuren hinterlassen haben. Und gleichzeitig lernen wir noch andere Persönlichkeiten kennen, wie beispielsweise Ada Bootle-Wilbraham, die den Duca Onorato Caetani di Sermoneta heiratete und die am 15. August 1882 als erste Frau, mit 36 Jahren und als fünffache Mutter, auf die Kleine Zinne kletterte – eine Tour im vierten Schwierigkeitsgrad. Auch wer im Italienischen nur den ersten oder zweiten Grad meistert, wird an Gasparettos Werk Gefallen finden; allein die umfangreichen Anmerkungen sind eine wahre Fundgrube.
Ich entdeckte das Buch in der Libreria Sovilla am Corso d’Italia, der Fussgängerzone von Cortina d’Ampezzo. Und noch viele andere Bergbücher: draussen am Stand auf dem Platz, gleich neben den Stuhlreihen des Café Royal, und drinnen in der Buchhandlung selbst. Alle Bücher, Führer, Karten zu den Dolomiten, aber auch antiquarische Bergbücher. Und die komplette Kollektion von „I Licheni“, der wichtigsten italienischen Bergbuchreihe, vor Jahren gestartet von Vivalda Editori und jetzt weitergeführt von Priuli & Verlucca, nachdem man im Frühling 2013 schon das Ende hatte befürchten müssen. Natürlich blieb es nicht beim Kauf von „Pionneers“, wie auch.
Bekannt wurde Cortina als Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1956 sowie als Drehort für den Bond-Streifen „For Your Eyes Only“ 1981. Auch der Alpinthriller „Cliffhanger“ wurde in den Türmen ob Cortina gedreht. Und viele andere Filme. Der prächtige Bildband „Set in Cortina. Il cinema e le Dolomiti“ listet die Werke auf, zeigt Filmausschnitte, berichtet von den Dreharbeiten. Zum Beispiel auch von „Ash Wednesday“ mit Elizabeth Taylor und Henry Fonda. Und noch ein anderes Buch machte die Reise vom Veneto zurück in die Schweiz: „Sempre più in alto“, die alpin angehauchte Lebensgeschichte des italienischen Fernsehmoderators Mike Bongiorno (1924-2009). Auf dem Titelbild ein sich küssendes Paar in Skibekleidung vor der Kulisse des Monte Cervino. Solo per i tuoi occhi…
Mirco Gasparetto: Pioneers. Alpinisti britannici sulle Dolomiti dell’Ottocento. Nuovi Sentieri Editore, Belluno 2013, € 30.-
Ludovica Damiani: Set in Cortina. Il cinema e le Dolomiti. Scatti protagonisti racconti. Mondadori Electa, Milano 2010, € 60.-
Sempre più in alto. La Montagna secondo Mike Bongiorno. Vivalda Editori, Torino 2012, € 16.90.
www.libreriasovilla.com. Noch bis Mitte September findet in Cortina d’Ampezzo das Literaturfestival „Una Montagna di Libri“ statt, an dem auch ein Premio della Montagna vergeben wird; alles weitere unter www.unamontagnadilibri.it. Am 15. August 2013 feiert man 150 Jahre Erstbesteigung Toffana di Mezzo (3244 m), hinter der Marmolada und dem Antelao der dritthöchste Dolomitengipfel.