DAS Bergbuch

Das weltweit berühmteste Bergbuch der Schweiz? Unser Rezensent stellt uns ein kleines Rätsel. Weiter unten dann die Lösung: Heidi! Heidi! Der Blog-Redaktor gesteht: (noch) nicht gelesen. Aber gluschtig geworden. Dafür erinnert er sich an eine kleine Umfrage in Japan. «Do you know Heidi?» Nur Kopfschütteln. Irgendwann fand er die Erklärung: Dort sagt man «Heitschi». Und strahlt übers ganze Gesicht.

Heidi alt

„Der Mai war gekommen. Von allen Höhen strömten die vollen Frühlingsbäche ins Tal herab. Ein warmer, lichter Sonnenschein lag auf der Alp. Sie war wieder grün geworden; der letzte Schnee war weggeschmolzen, und von den lockenden Sonnenstrahlen geweckt, guckten schon die ersten Blümchen mit ihren hellen Augen aus dem frischen Grase heraus. Droben rauschte der fröhliche Frühlingswind durch die Tannen und schüttelte ihnen die alten, dunkeln Nadeln fort, daß die jungen, hellgrünen herauskommen und die Bäume herrlich schmücken konnten. Hoch oben schwang wieder der alte Raubvogel seine Flügel in den blauen Lüften, und rings um die Almhütte lag der goldene Sonnenschein warm am Boden und trocknete die letzten feuchten Stellen auf, daß man wieder hinsetzen konnte, wo man nur wollte.“

Schön, nicht wahr? Am liebsten sässe man jetzt dort oben auf der Alp, genösse Maisonne und Frühlingswind – und läse weiter. Bevor wir das machen, möchte ich Euch aber fragen, ob Ihr den Text zuordnen könnt, dem Buch und der Autorin. Eine kleine Hilfe gefällig? Also: Mit dem Mai auf der Alp beginnt das sechste Kapitel „Die fernen Freunde regen sich“ im zweiten Band. Herausgefunden? Noch nicht? Dann noch dieser Hinweis: Das Zitat stammt aus dem weltweit berühmtesten, am meisten gedruckten und übersetzten Schweizer Buch. Ein Bergbuch übrigens.

Genaugenommen sind es ja zwei Bücher: „Heidi’s Lehr- und Wanderjahre“ (1880) und „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“ (1881). Oder sind es gar deren drei, dreissig, dreihundert? Mit ihrem Heidi hat Johanna Spyri (1827–1901) eine mediale Almlawine losgetreten, die noch keineswegs zum Stillstand gekommen ist. Ich hoffe doch, Ihr habt „Heidi“ gelesen. Oder wenigstens eine der Hörfassungen gehört oder eine der Verfilmungen angeschaut. Oder kennt ihr gar eine der Fortsetzungen wie „Heidi à Paris“, „Heidi grand-mère“ oder „Heidi und die Monster. Ein Alpendrama“, verfasst von Peter H. Geissen und Johanna Spyri? Ja, diese Titel gibt es.

Heide neu

Ein etwas anderes Heidi-Buch stellt all das vor. Und natürlich auch das Ur-Heidi. Erklärt seinen Erfolg – bis heute, gerade in unserer globalisierten Welt. Und geht auf das Leben der Autorin ein. Der Genfer Literaturwissenschaftler Jean-Michel Wissmer hat die Geschichte von Heidi neu gelesen und das Werk in Bezug zu seiner Entstehungszeit gesetzt. Er beleuchtet die Vorstellungen von Pädagogik und Psychologie, aber auch von Migration und Tourismus. Und er macht das so klug und charmant, ganz nah an der Heldin und dann wieder vom hohen Berg (nicht Ross!) herab, dass man zuerst sein Buch verschlingt und dann gleich zu „Heidi“ greift. Hier deshalb die Fortsetzung zum obigen Ausschnitt:

„Das Heidi war wieder auf der Alp. Es sprang dahin und dorthin und wußte gar nicht, wo es am schönsten war. Jetzt mußte es dem Winde lauschen, wie er tief und geheimnisvoll oben von den Felsen heruntersauste, immer näher und immer mächtiger, und jetzt schoß er in die Tannen und rüttelte und schüttelte sie, und es war, als jauchze er vor Vergnügen, und das Heidi mußte auch aufjauchzen und wurde dabei hin und her geblasen wie ein Blättlein. Dann lief es wieder auf das sonnige Plätzchen vor der Hütte und setzte sich auf den Boden und guckte in das kurze Gras hinein, zu entdecken, wie viele kleine Blumenkelche sich öffnen wollten oder schon offen waren. Da hüpften und krochen und tanzten auch so viele lustige Mücken und Käferchen in der Sonne herum und freuten sich, und das Heidi freute sich mit ihnen und sog den Frühlingsduft, der aus dem frisch erschlossenen Boden emporstieg, in langen Zügen ein und meinte, so schön sei es noch nie auf der Alp gewesen. Den tausend kleinen Tierlein mußte es so wohl sein wie ihm, denn es war gerade, als summten und sängen sie in heller Freude alle durcheinander: ‚Auf der Alp! Auf der Alp! Auf der Alp!‘“

Jean-Michel Wissmer: Heidi. Ein Schweizer Mythos erobert die Welt. Schwabe Verlag, Basel 2014, Reihe Reflexe 32, Fr. 19.50.

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