Sich mit dem eigenen Tun zu befassen, kann nie schaden. Gerade weil und wenn sich der Puls dabei beschleunigt.
«Die einen – die wissenschaftlich interessierten Bergreisenden – wollten auf die hohen Berge hinaufkommen, wussten aber nicht, wie man das macht. Die theoretische Neugierde gab ihnen das Ziel vor; doch sie verfügten über keine Methode und keine Technik, dieses Ziel zu erreichen.
Die anderen aber – die Einheimischen, die Bergler, die Bewohner der Alpentäler – hatten keineswegs das Ziel, die allerhöchsten Bergspitzen zu erreichen, denn diese lagen außerhalb ihres Interessengebietes. Doch sie verfügten über die Methode und die Technik, hinaufzukommen – vom Orientierungsvermögen bis hin zur Kenntnis der Seilknoten, von der richtigen Einschätzung des Wetters bis hin zum Einsatz der Steigeisen und der Axt beim Aushauen der Eisstufen. […]
So gelang am Ende – über den Interessenausgleich des Zugeständnisses des jeweils erstrebten Beute – eine Kooperation, die die Entstehung des frühen Alpinismus in der Zeit um 1800 ermöglichte.»
Ausschnitt aus dem grundlegenden Werk „Das Herz der Höhe. Eine Kultur- und Seelengeschichte des Bergsteigens“ des deutschen Volkskundlers Martin Scharfe. Darin wirft der Professor für Europäische Ethnologie und Kulturforschung an der Universität Marburg von 1985 bis 2001 einen neuen Blick auf die Geschichte des Alpinismus, insbesondere auf seine Entstehung und Verbreitung vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Neue dabei: Scharfe brilliert nicht mit neuen Fakten, sondern mit einer neuen Lesart der alten Schriften. Beispielsweise in den Texten von Joseph Zumstein und Ludwig Freiherr von Welden zu ihren Erstbesteigungen von Zumsteinspitze und Ludwigshöhe am Monte Rosa 1820 und 1822; Gipfel, welche die beiden Forscher mit Hilfe von Locals ersteigen konnten. Alle an diesen Hochtouren Beteiligten machten gute Beute: die einen Erkenntnisse zur Höhe, Topografie etc., die andern Lohn für Führer- und Trägerdienste. Eine Win-Win-Situation für alle.
In seinem 429-seitigen, mit 122 Abbildungen illustrierten Werk – es setzt sich zusammen aus 20 überarbeiteten Texten und Vorträgen – skizziert Martin Scharfe im ersten Kapitel drei Epochen der Seelen- und Leibgeschichte des Alpinismus:
1. Zeit des heißen Herzens: Von 1780 bis 1830 war es notwendig, ja erwünscht, „selbst die extremsten Emotionen zu äußern und zu kommunizieren: Emphase wie Euphorie, Angst wie Entsetzen. Der Leib war noch nicht zum Körper instrumentalisiert, also noch offen für eigentümliche Sinneserfahrungen.“ Und das schlug sich in den Texten der ersten Bergsteiger nieder, manchmal versteckt, aber mit Scharfes Blick dringen wir in ihr Herz und Seele vor.
2. Zeit des kalten Herzens: Von etwa 1830 bis vor kurzem sei der Alpinist frei von Leidenschaften und Gewissensbissen gewesen, „die Seele kennt keine Schrecken mehr, der Leib, der nur Körper ist, keine Leiden.“ Mit einem maskulinen Panzer hätten die Bergsteiger die letzten Ziele erreichen wollen.
3. Zeit des temperierten Herzens: Seit einigen Jahrzehnten häuften sich die Berichte über neues Leib-Spüren und neues Nach-Innen-Hören. Zudem, so der Historiker zur dritten und gegenwärtigen Phase des Alpinismus, werde das Frauen-Bergsteigen immer selbstverständlicher, werde über das By-fair-means wie Höhenbergsteigen ohne künstlichen Sauerstoff vermehrt nachgedacht, werden ökologische Fragen auch beim Bergsport aufgeworfen.
Andere, immer gut dokumentierte Kapitel befassen sich eingehend mit der Geschichte der älteren alpinen Ausrüstung, mit den Blicken vom Berg und auf den Gletscher, mit der Geschichte der Berg- und Gipfelzeichen (zum Beispiel mit dem Kruzifix inklusive Blitzableiter). Das 18. Kapitel aber rollt allen davon: dasjenige über die Erfahrungen mit den Alpen in der Frühzeit des Automobils. Darin setzt sich Martin Scharfe sozusagen in die 6-PS Voiturette von Charles L. Freeston, der als wohl erster Menschen zwischen 1893 und 1910 über hundert Alpenpässe systematisch abfuhr und darüber in „Die Hochstraßen der Alpen“ berichtete. In diesem Führer preist der Engländer die neue Freiheit und den neuen Genuss, wenn man im Automobil die Baumgrenze hinter sich lasse, „bis man sich um Ecken und Kurven schwingt und mit einem letzten Ruck eine Höhe von beinahe 3000 m über dem Meeresspiegel erreicht!“. Das Herz in der Höhe, buchstäblich ganz anders erfahren.
Ein Tipp noch, bevor wir losgehen zur nächsten (Lese-)tour: Ein sehr empfehlenswerter Einstieg in die Alpinismus- und Bergtourismus-Geschichte von Martin Scharfe ist sein Buch „Bilder aus den Alpen. Eine andere Geschichte des Bergsteigens“ (Böhlau Verlag, Wien 2013, Fr. 32.90). https://bergliteratur.ch/eine-andere-geschichte-des-bergsteigens/
Martin Scharfe: Das Herz der Höhe. Eine Kultur- und Seelengeschichte des Bergsteigens. Schwabe Verlag, Berlin 2021. Fr. 68.-