Sohn eines Engländers und einer Bernerin und in Paris zum Ingenieur ausgebildet: dass aus solcher Biografie ein Visionär und Multitalent hervorgeht, wundert nicht. Eine Schutzhütte auf dem Gipfel der Jungfrau ist da noch das schlichteste seiner unzähligen Projekte – zum Glück ist dieses ein Luftschlösschen geblieben.
„Section Bern. „Der Bau einer Hütte auf dem Jungfraugipfel“ war am 23. Februar [1887] Gegenstand eines Vortrages, den Herr Ingenieur Gosset hielt. Zweck eines solchen Baues wäre, Touristen, die zu später Tageszeit erst den Gipfel erreichen, ein Nachtquartier, oder solchen, die bei der Ankunft auf demselben wenig Aussicht finden, Gelegenheit zu bieten, die Vertheilung der Wolken bequem abzuwarten. Als Standort hat Herr Gosset das kleine Felsplateau ausersehen, das bloss 10 m unterhalb des Gipfels und 90 m westlich davon, mit Front gegen Mürren, liegt, wo der Hochfirn und der Weg vom Rothalsattel zusammentreffen, und wo der Gipfel in zwei Minuten erreicht wird. – Die Hütte, ganz aus Holz, würde 12 m lang und 3 m hoch; durch ingeniös konstruierte zweistöckige Pritschen könnten im Nothfall 32 Mann darin Unterkunft finden. (…)
Der Vortrag rief einer eingehenden Diskussion, die allerdings die kühne Idee des Herrn Gosset vollauf würdigte, aber doch nach verschiedenen Seiten hin Bedenken äusserte. Die Anlage eines Proviantvorrathes fand man z. B. unthunlich, da Touristen und Führer dann gerne darauf sich verlassen, aber in die grösste Noth kämen, wenn die vorhergehenden Besucher denselben aufgezehrt hätten. Man glaubte auch, ein solcher Bau würde unkundige und schwächliche Leute verlocken, die Besteigung zu unternehmen, und dann Unglücksfälle herbeiführen, wie sie gerade letzten Sommer am Matterhorn sich ereigneten.
Einstweilen bleibt die Sache nur Projekt, da ja noch der grösste Theil des nöthigen Geldes fehlt. (…) Das Projekt ist aber so eigenartig, dass dessen ausführliche Mittheilung gewiss viele Leser interessirt.“
Das tut sie, die Mitteilung der SAC-Sektion Bern in der „Schweizer Alpen-Zeitung“, dem „Organ für die deutschen Sectionen des Schweizer Alpenclubs sowie für alle Freunde der Alpenwelt“, vom 1. April 1887. Kein Aprilscherz war aber das eigenartige – ja einzigartige – Projekt einer Gipfelhütte auf der Jungfrau von Ingenieur Gosset. Es blieb beim Projekt, leider. Aber es zeigt, was sein Verfasser war: ein Mann mit kühnen Ideen. Einer, der hoch hinauswollte. Nicht nur an der Jungfrau, sondern überhaupt. Eine Biografie, die in diesen Tagen erscheint, heisst deshalb so: „Das Multitalent Philipp Gosset“.
Philipp Charles Gosset, am 11. März 1938 in Bern als Sohn eines Engländers und einer Bernerin geboren, am 24. März 1911 in Wabern bei Bern als Bernburger gestorben, war tatsächlich einer, der auf ganz verschiedenen Gebieten Talent zeigte und entwickelte. Gosset wuchs in Bern auf und liess sich in Paris zum Ingenieur ausbilden. Zurück in der Schweiz, betätigte er sich als Quartierplaner (Bern-Kirchenfeld), Eisenbahningenieur (Simplonstrecke), Topograf (und Kartograf) im Eidgenössischen Stabsbureau, Glaziologe (Vermessung des Rhonegletschers), Vermesser von Seetiefen (Lac Léman, Murtensee und Oeschinensee), Lawinenforscher, Speläologe, Ballistiker, Hüttenplaner, Landschaftszeichner, Illustrator, Übersetzer, Vortragsredner, Leiter der vom Vater geerbten Canadischen Baumschule in Wabern. Und nicht zuletzt als Alpinist (Erstbesteiger des Klein Doldenhorns). Tatsächlich ein Multitalent. Philipp Gosset war Mitglied des Alpine Club (seit 1859) und der Sektion Bern des SAC (seit dem Gründungsjahr 1863, mit Unterbruch von 1872 bis 1882).
Am 28. Februar 1864 überlebt er das erste tödliche Lawinenunglück, das sich während einer winterlichen Hochtour ereignet. Mit dem Führer Johann Joseph Benet, dem Erstbesteiger des Weisshorns und Fasterstbesteiger des Matterhorns, wollen Gosset und sein Freund Louis Boissonnet (mit dabei sind auch drei Träger) den stolzen Haut de Cry (2969 m) im Unterwallis besteigen. Wenig unterhalb des Gipfels müssen sie ein triebschneegefülltes Couloir queren. Was dann passierte, schildert Gosset im ersten Band des „Alpine Journal“ von 1863/64; sein „Narrative of the Fatal Accident on the Haut-de-Cry“ findet später Eingang in John Tyndalls Klassiker „Hours of Exercise“, Emil Zsigmondys Standardwerk „Die Gefahren der Alpen“ sowie in das wahrscheinlich meistgelesene Bergbuch überhaupt, in Edward Whympers „Scrambles amongst the Alps“. Ausschnitt daraus:
„Bennen [so nannten die Engländer Benet] ging weiter, hatte aber erst wenige Schritte gemacht, als er einen tiefen schneidenden Ton hörte. Das Schneefeld spaltete sich vierzehn bis fünfzehn Fuβ über uns in zwei Theile. Anfänglich war der Riβ schmal, nicht breiter als einen Zoll. Ein schreckliches Schweigen folgte, das etwa zehn Secunden dauerte und dann durch Bennen unterbrochen wurde. ‚Wir sind Alle verloren‘, sagte er leise und feierlich.“
Nicht alle, zum Glück. Doch Benet und Boissonnet konnten nur noch tot aus dem Lawinenkegel geholt werden.
Georg Germann (Hrsg.): Das Multitalent Philipp Gosset 1838-1911. Alpinist, Gletscherforscher, Ingenieur, Landschaftsgärtner, Topograf. Mit Beiträgen von Steffen Osoegawa, Quirinus Reichen, Martin Rickenbacher und Jürg Schweizer. Verlag Hier und Jetzt, Baden 2014, Fr. 49.-
Die Buchvernissage findet statt am Mittwoch, 20. August 2014, um 18.00 Uhr im Bernischen Historischen Museum am Helvetiaplatz in Bern.