Ein gewichtiges Buch für alle, die die schweizerische Landschaft à fond kennenlernen möchten.
«So wie man an einzelnen organischen Wesen eine bestimmte Physiognomie erkennt; wie beschreibende Botanik und Zoologie, im engern Sinne des Worts, fast nichts als Zergliederung der Thier- und Pflanzenformen ist: so giebt es auch eine gewisse Naturphysiognomie, welche jedem Himmelsstriche ausschlieſslich zukommt.»
Dieser Satz des Universalgelehrten Alexander von Humboldt aus seinen „Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse“ (Tübingen, 1806) findet sich im Nachwort eines rundum gewichtigen Buches. Mit dem knapp A4 grossen, 3 cm dicken und 2,1 kg schweren Werk „Das Relief der Schweiz. Bildatlas der Oberflächenformen“ hat Herbert Bühl eine einmalige Übersicht zur Geomorphologie des zwischen Alpen und Jura eingebetteten Landes geschaffen. Auf 470 Seiten und mit 420 Fotos, 100 Karten, 85 Orthofotos, 80 Reliefs, 16 Tabellen und 15 Grafiken präsentiert er Landformen und Landschaftsräume mit ihren Geschichten. Der Erdwissenschaftler und Umweltplaner gibt karto- und fotografische Einblicke in die unglaubliche und oft auch unbekannte Vielfalt der schweizerischen Landschaften.
Natürlich: Ganz leicht zu lesen ist das üppige Werk nicht. Während man die Überschrift „Aktuelles Sackungs-, Rutsch- und Felssturzgebiet über dem Grossen Aletschgletscher“ locker begreift, muss man bei „Periglaziale Denudationsprozesse“ vielleicht schon zweimal ansetzen. Die dazugehörigen Fotos helfen aber beim Verstehen, auch wenn diese Bildlegende wieder ein Stolperstein werden könnte: „Texturboden mit polygonalem Vegetationsnetz um flechtenbewachsene, leicht aufgewölbte Erdkissen auf dem Fil de Cassons, Flims GR, ca. 2650 m.ü.M.“ Dort stand ich wahrscheinlich schon mal, nur sind mir damals diese Erdkissen nicht aufgefallen, noch hätte ich sie irgendwie einordnen können.
Klar: „Das Relief der Schweiz“ ist kaum ein Buch, das man von A wie Abrissfläche und Adelboden bis Z wie Zungenbeckensee und Zwischenbergen (aus dem Sach- bzw. Ortsregister) lesen wird. Aber es ist eines, das man immer wieder gerne zur Hand nimmt und sich in ein Kapitel vertieft. Beispielsweise über die „Morphologie der Fliessgewässer“. Allein das seitengrosse Foto des Mutzbachfalles ruft dazu auf, diesen Wasserfall im Oberaargau zu besuchen. Und wenn wir schon dort sind, wandern wir unbedingt noch weiter auf den aussichtsreichen Oberbüelchnubel (818 m); er ist Teil der „Sandstein- und mergeldominierten Riedellandschaften der Mittelländischen Molasse“, einem der 67 geomorphologischen Landschaftstypen der Schweiz.
Alexander von Humboldts bereiste mehrmals die Schweiz. Ja, im Herbst 1795 erwog er sogar eine Auswanderung an den Sarner- oder Vierwaldstättersee, wie er Christiane von Waldenfels schrieb: „Es bleibt die lieblichste Gegend der ganzen Schweiz, und wenn wir nicht zusammen nach Amerika wandern, so müssen wir dahin, um, abgesondert von den sogenannten gebildeten Menschen, ein stilles glückliches Leben zu führen.“ Doch zu welchen Oberflächenformen gehören nun diese Seen bzw. die Berge an ihren Ufern?
Herbert Bühl: Das Relief der Schweiz. Bildatlas der Oberflächenformen. Haupt Verlag, Bern 2020, Fr. 78.-