Den Alltag verloren

So unbeschwert wie heute geben sich die Tage selten. Amden bettet sich behaglich auf die Sonnenterrasse. Durchaus: der Blick nach oben zu Mattstock und Gulmen lässt mich anerkennend nicken. Die Natur posiert ganz selbstbewusst. © Annette Frommherz

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Behutsam lasse ich den Alltag fallen. Heute bin ich alleine unterwegs; mit mir und meinen Gedanken. Es ist ein selten gewordenes Stelldichein, und ich geniesse es. Mir fehlt es an nichts, ausser dass ich einem Mitläufer gerne gesagt hätte, wie blumig der Rosentee mit Honig schmeckt und wie vollkommen er in diese paradiesische Umgebung passt.

Es knirscht unter meinen Schneeschuhen. Kaum habe ich die Piste mit den Skifahrern und Snowboardern hinter mir gelassen, liegt der Schnee unberührt und die Weite vor mir. Millionen von Diamanten sind hier grosszügig gestreut worden und funkeln in der Mittagssonne. Tannen beugen sich mit schwerer Last. Tierspuren kreuzen sich. Ich bleibe stehen und lausche. Es ist die Sehnsucht nach Stille. Die Lautlosigkeit, in der selbst der Tinnitus, der üble Bursche, sich still ergibt und mich für einmal höflich in Ruhe lässt.

Ich will die Zeit geniessen, die uns noch bleibt bis zum prophezeiten Weltuntergang. Was uns Mahner und Weissager auch verkünden: Es ist gut, daran erinnert zu werden, dass wir nicht unendlich auf diesem Planeten weilen dürfen. Wonach wir streben, wer und was uns wichtig ist, was wir nicht wiederholen mögen: darüber nachzudenken lohnt sich. Hier ist der ideale Platz, um meine Gedanken fliessen zu lassen, kreuz und quer durch die Gezeiten meines Lebens. Schnee rieselt von einem Ast in meinen Nacken und kühlt. Ein Seufzer, der unbemerkt nach draussen flüchtet, lässt mich aufhorchen. Es ist, als wärs die letzte Sorge, die aus meinem Innersten entweicht. Eine verirrte Wolke hängt zwischen den Tannenwipfeln und sucht vergeblich nach seinesgleichen. So blau der Rest des Himmels ist, so rein ist nun mein Atem. Der Alltag liegt tief begraben unter dem Schnee, vielleicht sogar im Innern der Erdkugel. Ich mag ihn nicht ausgraben. Ich mag nach überhaupt nichts graben. Ausser nach mir selbst. Die Sonne wärmt weich mein Gesicht.

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