Der Alpmeister

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Nicht immer ist dieses Sprichwort treffend. Manchmal aber schon. © Annette Frommherz stockberg-11-2011-31

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Das Schöne an einer Wanderung ist ja unter anderem, dass man mit Leuten schnell in Kontakt kommt. Hier halten sich Gleichgesinnte auf, das bewirkt Gemeinsamkeit. Im Unterland müsste ich mir einen Hund halten. Tina heisst sie? Schöner Name, so heisst meine Nichte auch. Wie alt ist sie? Lassen Sie ihr die Ohren nicht kupieren? Meiner hat nach dem Tierarztbesuch immer Durchfall. Und so weiter. Gesprächsstoffe gäbe es so viele wie Laubbläser.
In der Stadt würde mir ein Hund nichts nützen. Versuche ich da eine Person anzusprechen, tritt sie erschreckt einen Schritt zurück, fasst ihre Tasche fester und schaut mich mit grossen Augen an. Neinein, ich komme nicht vom Mars, keine Angst und schön ruhig, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie mir vielleicht sagen könnten, wie ich zur Zähringerstrasse komme.
In den Bergen ist alles anders. Man kommt sich näher, wenn man möchte, ist sich meist einig, was das Wetter anbelangt, und schwitzt nicht minder als der andere. Ein Dialog kommt in Gang, ehe man sichs versieht, und das gleichermassen Positive daran ist, dass in dieser Kommunikationsphase verschnauft werden kann. Wer sich nicht über Hinz und Kunz unterhalten mag, der schreitet einfach laut schnaufend dem Wanderer entgegen, nickt ihm kurz zu und schaut dann angestrengt auf den Weg, als könnte man dort zwischen den Wurzeln Fünfliber finden. So einfach geht das.
Aber was ich eigentlich sagen wollte: Auf dem Stockberg im Toggenburg war es prachtvoll. Den Nebel liessen wir unter uns, der lungerte dort nichtsnutz etwas herum und kroch nachmittags weiter durchs Toggenburger Tal. Nichts schien die Ruhe hier oben übertönen zu können, auch die Gleitschirmflieger liessen sich fast lautlos in die Lüfte heben. Die Sonne hatte es sich am Himmel bequem gemacht; auch ihr schien es recht gut zu gehen. Und wie wir so geniesserisch über die Hänge nach unten hüpften, sass da ein Mann auf einem Stein.
Sein Bart hatte sich auf seine hellblaue Alpkutte gelegt, den krummen Stock hatte der Mann neben sich gestellt. Ob ich von ihm ein Bild schiessen dürfe, das Ganze sähe grad so nach Stilleben aus (oder nach still leben, dachte ich noch). Doch, ja, wenn das Bild nicht in allen Zeitungen erscheine. Tut es nicht, ich habe ihm hier einen netteren Platz arrangiert.
Was er mit dem Feldstecher schaue. Die Gegend, sagte er, ich schaue mir die Gegend an, er sei der Alpmeister hier. Alpmeister? Ja, er schaue, ob hier alles mit rechten Dingen zu und her gehe. Zum Beispiel? Ob der Mist ausgezettelt wurde hier oben auf der Alp, ob die Trockenmauern wieder aufgebaut werden müssten oder das Buschwerk geräumt werden sollte, und ob auch sonst alles in Ordnung sei. Ein hübscher Beruf, dachte ich mir, heute sogar mit Sonntagszulage. Etwas neidisch sah ich ihn an, wie er so friedlich auf diesem Stein sass, als hätte er alle Zeit der Welt. Ich will auch Alpmeisterin werden. Über dem Nebel auf einem Stein sitzen, ein Liedchen pfeifen, mir eine Krumme anzünden und mit dem Feldstecher auf die andere Talseite schauen, ob die anderen Alpmeisterinnen dort ihre Pflicht tun und ob da drüben auch alles zum Besten sei. Selbst einen Bart würde ich mir wachsen lassen.

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