Schon lange hatte ich ihn im Visier. Immer wieder sah ich zu ihm hinüber. Wie oft hatte er mir aus der Ferne zugewinkt. Nun endlich stand ich auf ihm, dem höchsten Glarner. Der Tödi, meine Sehnsucht. © Annette Frommherz
Ich meinte es ernst. Monate zuvor deckte ich Anny laufend mit Bildern des Tödi ein, die ihr meine feste Absicht bekräftigen sollten. Ich hatte die Sportliche letzten Sommer bei einem Gletschertrekking kennengelernt, und für mich stand fest: Mit ihr wollte ich auf diesen Glarner Prachtskerl. Zweimal wöchentlich rannte ich zielstrebig auf meinen Hausberg, den Bachtel, der sich darüber wunderte, wie oft und unverhofft ich ihm die Ehre erwies. Anny konnte schliesslich nicht nein sagen. Wir buchten als Bergführer Lucas, dem man gewöhnlich eher auf Viertausender begegnet oder als Expeditionsführer in Asien und anderswo. Nun wollen wir ihm das Glarnerland näherbringen, denn unser auserkorener Gipfel ist ihm ebenso unbekannt wie uns.
Der Tödi, unser Berg, wie wir ihn inzwischen nennen, hat unverdient eine schwere Last zu tragen. Es wird vermutet, dass sich sein Name aus dem Schweizerdeutschen ableitet. Ich gange i d’Ödi, wird sich Herr Curschellas, einer der beiden Erstbesteiger, gesagt haben, als er auf den kahlen Deckel des Berges schaute. Einhundertneunundachtzig Jahre später nähern wir uns dem Tödi auf der gleichen Route wie damals die Unbeirrbaren. Von der Bündner Seite her wandern wir ab der Alp Schlans den Höhenweg hinauf zur Alp da Punteglias und bald steil bergan durch die ersten Schneefelder zur Puntegliashütte.
Der Schlaf war kurz, als wir um drei Uhr in der Früh in die schwarze Nacht hinaustreten. Unsere Stirnlampen suchen sich den Weg durch die Einsamkeit. Schweigend stapfen wir durch Schnee, wo normalerweise Schuttfelder liegen. Es liegt eine sanfte Ruhe um uns und auf dem Glatscher da Glims genug Schnee, um ohne Steigeisen darüber laufen zu können. Bevor der Anstieg steiler wird, montieren wir sie und seilen uns an. Langsam erwacht der Tag, der uns viel verspricht und ein weiches Rosa an den Horizont malt. Nach einer ersten Kletterpassage erreichen wir den Sattel. Anny wirft mir einen übermütigen Blick zu. Ich habe es auch gesehen: Die Zipfel der Berge um uns recken und strecken sich, als wollten sie noch höher werden. Über den Bifertenfirn legen wir unsere Spuren, die Sonne ist vollends erwacht. Nun ist unser Berg endlich im Blickfeld: der Piz Russein mit seinen 3‘614 Metern über Meer, der höchste der drei Tödigipfel. Mir ist, als winke er uns. Kommt her, ihr seid willkommen! Der Drang, den Gipfel zu erklimmen, lässt mich vergessen, dass wir seit über fünf Stunden unterwegs sind. Steil verläuft jetzt der letzte Anstieg. Auf dem Grat wage ich keinen seitlichen Blick. Ich bilde mir ein, meine Höhenangst sei verschollen. Unbeirrt laufe ich hinter unserem Bergführer, Meter um Meter unserem Ziel entgegen. Wie wir das Gipfelkreuz erreichen, bleiben mir die Worte weg. Unser Berg empfängt uns mit offenen Armen. Ich drehe mich um mich selber, schaue in die Unendlichkeit und fühle mich so vergänglich wie noch selten zuvor. Wem will ich beschreiben, was in mir vorgeht, wer es nicht selber schon erlebt hat! Mir schwimmen die Augen, wir liegen uns in den Armen und stammeln etwas von ‚fantastisch‘ und ‚vollendet‘. Dieses Glück, das sich in mir ausbreitet, wärmt mich von innen.
Noch liegen aber ein paar weitere Stunden vor uns, bis wir unser Tagesziel, die Fridolinshütte, erreichen werden. Beim Abstieg blicke ich zurück zu unserem Tödi, diesem lieblichen Ungetüm. Mit Erfolg verdränge ich die Schmerzen, die mir die zwei Blasen auf den Fersen bereiten. Auf dem Bifertenfirn umgehen wir die Spalten oder springen über sie, und bald sehen wir hinüber zur Gelben Wand. Lucas springt über den breiten Spalt zwischen Firn und Fels, klettert gewandt hoch und lässt uns gesichert nachkommen. Lange nachdenken lohnt sich nicht, geht mir noch durch den Kopf, bevor ich den Sprung hinüber wage. Auch Anny kommt ohne Zögern nach, und im Abstand klettern wir nacheinander hoch, laufen das Band hinüber zur anderen Seite der Wand und klettern steil über loses Gestein hinunter zum Schneefeld. In der Ferne thront an der Ostflanke des Tödi die Grünhornhütte. 1863 wurde sie vom Schweizer Alpenclub als erste Berghütte für Alpinisten erbaut und diente lange Jahre als Notunterkunft. Dieses Jahr feiert die Hütte mit dem SAC ein gemeinsames Jubiläum: 150 Jahre. Wir benötigen nochmals unsere ganze Kraft, um zur Hütte hochzusteigen, aber es ist – abgesehen davon, dass es sich lohnt – der einzige Weg. Das Innere der Hütte zeigt sich spartanisch: zwei Bänke, ein Tisch, in den geritzt werden darf. Lucas kratzt die Buchstaben F l o r i a n aus, der Name seines achtundzwanzig Tage jungen Sohnes.
Die Rast in der Sonne vor der Hütte lässt uns nochmals Kraft tanken für den letzten Akt unserer heutigen Tour. Vor uns liegt bald die Fridolinshütte. Genau zehn Stunden waren wir unterwegs. Unsere Füsse sind dankbar, als wir sie von den Bergschuhen befreien.
Nachmittags legen sich Nebelschleier um die Berggipfel, aber da bade ich längst im Evakostüm im kleinen See neben der Hütte, und Kinder spielen Bergsee-Kapitäne im Boot ‚Fridolinghi‘. Vor der Hütte verarzte ich Lucas‘ Wunde am Fuss. Am Abend vor der Tour ist er auf die Spitzen seiner Steigeisen getreten. Tapfer und ohne Wehklagen lässt er die Prozedur über sich ergehen.
Am andern Morgen schauen wir in einen weiteren klaren Tag. Den steilen Weg hinab nach Tierfehd nehmen wir mit frischem Schwung. Überhaupt sind wir wie von Geisterhand zu neuen Kräften gekommen. Es mag wohl auch an der Gastfreundschaft der Fridolinshütte liegen. Hinab begleiten uns der Hainlattich, die Schwarzrote Akelei und sogar die imposanten Feuerlilien. Auch Glockenblume, Knöterich, Teufelskralle und Enzian und was weiss ich sich alles brüstet in dieser bunten Herrlichkeit. Unsere Schritte sind lang, die Zehen taub, der Kopf leer und bereit für alles, was kommen möge. Unterwegs malen wir uns aus, welcher Höllenlärm hier herrschte, könnten all die vielen Steine sprechen. Die Pantenbrücke mit den steinernen, imposanten Bögen steht schon bereit, als wir uns durch Wald und Grünwerk der engen Linthschlucht nähern. «Gar wunderlich Werk, daz ouch der Tüvel sich dez wundern müsst», liest sich auf der Tafel. Wir nicken zustimmend. Bis hinab naschen wir händeweise wilde Erdbeeren, die am Wegbord locken.
Im Zug durch das Lintthal sagt Anny, als sie zum Fenster hinausschaut: «Sieh nur, unser Tödi! Mir scheint, er lächelt uns an!» Tatsächlich, ich sehe es auch. Da erst beginne ich zu begreifen: Wir waren da oben.
Gratuliere! Ich stand Anfang Juni bei Prachtswetter auch zum ersten Mal auf dem Piz Russein.