Der Waldflüsterer

Er gilt als der Experte des Waldes, als Sachkundiger des Aspromonte. Was es damit auf sich hat, wird schnell klar. Antonio, der mit dem Wald flüstert. © Annette Frommherz kalabrien-09-2011-53

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Sein Gesicht ist von der Sonne gebräunt. Hohe Wangenknochen, dunkle Augen, lauernder Blick. Klein ist er und von schmächtiger Statur. Drahtig und abwartend steht er da, die Axt unter den Arm geklemmt. Er sieht älter aus als er tatsächlich ist. Mit seinem kantigen Gesicht gerät man in Versuchung, ihn von den Indianern abstammen zu lassen. Das ist Antonio, der Kenner des Aspromonte, des ‚rauen Berges’, des Bergmassivs in der Provinz Reggio Calabria in Südkalabrien. Mit dem Zug ist die Gruppe an Italiens Stiefelspitze gereist, um wandernd vom Tyrrhenischen Meer durch die Serre zum Ionischen Meer zu gelangen und tagelang durch den Nationalpark des Aspromonte zu streifen. Hier kann man sich wunderbar verirren: die Gegend ist weitläufig, und beharrlich hält sich das Gerücht, die dichten Wälder des Aspromonte dienten der kalabresischen Verbrecherorganisation ‚Ndrangheta’ als Rückzugsgebiet.
Flink erklimmt Antonio die Anhöhe Richtung Pietra Cappa, eine runde imposante Bergkuppe, das Wahrzeichen des Aspromonte. Ich folge dicht hinter ihm. Ein kurzer Blick zurück und er beschleunigt seine Schritte. Ich bleibe ihm dicht auf den Fersen. Viel redet er nicht, und als er merkt, dass ich seinem Italienisch nicht folgen kann, stellt er auf Zeichensprache um. Er deutet mir, stehen zu bleiben, als er am Wegrand ein Hornissennest entdeckt. Deutet mit der Hand zum Himmel, wo die Schwalben segeln. Hält den Zeigefinger an seine Lippen, damit ich den Grünspecht nicht verscheuche, der seinen Schnabel in den Baumstamm bohrt. Die Gruppe schliesst auf. Ab und zu holt Antonio mit der Axt aus, um vorwitzige Ginsterstauden oder Stachelbüsche zu stutzen und uns so den Weg durch das Dickicht zu bahnen. Buchen, Fichten und Kiefern lassen uns durch abwechslungsreichen Wald ziehen. Der Boden ist stellenweise übersät von dichtem Farn. Nicht selten ist die Erde von Wildschweinen durchwühlt. Bald geben sich bemooste Steine die Hand, und den Bach, der träge vor sich hin fliesst, überqueren wir mit blossen Füssen. Es riecht nach Minze, wenn wir durch das Dickicht streifen. Vom dichten Wald wechselt es in steinige, schmale Anstiege. Antonios Schritte sind leichtfüssig, das Gesicht dem kahlen Berg zugewandt. Seine Haut ist gegerbt von der Sonne und zeigt die gleichen Symptome wie beim Dörrobst, dem die Flüssigkeit entzogen wird.
Die Zeit ist stehen geblieben; irgendwo zwischen Chiasso und Bologna. Ich richte mich nach der Sonne. Die hat sich tröstlich am Himmel platziert, nachdem kurz zuvor die Wolken lange, nasse Strähnen Richtung Boden fallen liessen. Ich stehe auf Antonios Schatten, und als ich es bemerke, trete ich beiseite. Er ist der König des Waldes, dem die Untertanen willig folgen.

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Ein Knacken im Unterholz lässt einem hier schnell zusammenzucken. Schon ziehen die Bilder von Entführungen durch den Kopf, von hohen Lösegeldforderungen durch die Mafia, von dunklen, feuchten Erdgefängnissen für die Opfer der Machenschaften. Letztendlich ist es nur eine Ziege, die des Pfades schlendert, oder ein Forestali, ein Forstarbeiter, der ausnahmsweise sich mit Arbeit beschäftigt. Immerhin scheinen wir von Irrtümern nicht loszukommen.
Wie ich die dicken Stämme der Steineichen entdecke, inmitten verschlungener Jahrhunderte, da schweige ich. Weil es nichts zu sagen gibt. Weil Mächtiges nicht unterbrochen werden darf, auch wenn es lautlos bleibt. So schweige ich die alten Stämme an, wie ich alte Menschen anschweige. Denn sie sind es – alte Menschen und Bäume – die etwas zu sagen haben. Dann fällt mein Blick auf die Stämme, die der Blitz in eine Fackel verwandelt hat und deren schwarze Hüllen nun wie Mahnmale in der Landschaft stehen. Nicht nutzlos, sondern längst im Glauben daran, sich bereithalten zu müssen für ein nächstes Leben. Lange kann ich meinen Gedanken nicht nachhängen. Antonio hat Baumpilze entdeckt. Flink klettert er den feuchten Stamm empor und schneidet die Pilze weg. Wir werden sie abends auf dem Holzfeuer brutzeln, inmitten von Peperoncini und in einer Unmenge von Olivenöl. Als Antonio den Stamm hinunterrutscht, gewinnen wir ihm ein Lächeln ab. Es ist der Schalk in seinen Augen, der ihn auch zu dem macht, was er ist: eine Art Crocodil Dundee des Aspromonte; nur ohne Hut und Ledergilet. Das hier ist sein Revier, als hätte er die Landkarte auf seine eigene Fläche reduziert. Bald wird er uns zeigen, wie man eine Falle baut, mit der er Siebenschläfer und Eichhörnchen fängt. Zwei Steine und drei zurechtgeschnittene Hölzer genügen, um dem Baumgetier den Garaus zu machen. Antonio klopft mir anerkennend auf die Schulter, als ich es endlich schaffe, die Hölzchen so zu platzieren, dass die Falle bereit ist.
Weit unten liegt das ausgetrocknete Bachbett des Fiumara di Amendoela. Am Wegrand zeigen sich graziös die Zyklamen (cyclamen hederifolium) und immer wieder die Meerzwiebel (urginea maritima) mit ihrem markanten rosa-weissen Blütenstengel. Antonio zeigt uns, wie man Kaktusfrüchte zerteilt, ohne dass sich die feinen Stacheln in der Haut verfangen. Er führt uns auf die Spur des Wolfes und deutet dessen Kot. Antontio kennt sich hier aus. Keine Frage: in diesen wilden Schluchten, in diesem teils unwegsamen Gelände ist er zu Hause.
Wie wir anderntags im Bergdorf Bivongi ankommen, wird Antonio wortkarger. Er ist keiner, der abends auf dem Dorfplatz seine Reden hält oder in der Bar bis in die Nacht sich mit Grappa füllt. Ihm küssen die Männer ehrfürchtig beide Wangen. Es ist, als käme er in die Zivilisation, ohne wirklich anzukommen. Antonio hat mir die Feder eines Mäusebussards geschenkt, später einen kleinen Strauss blühenden Ginster. Daran denke ich, als ich den besten Espresso geniesse, den ich jemals aufgetischt bekam.
Wir verabschieden uns am gleichen Abend von Antonio, denn morgen wollen wir bis an die Küste. Dort ist nicht Antonios Territorium. Sein Blick beim Abschied ist trüb, wer weiss weshalb. Sein Heimatdorf, San Luca, ist nicht weit, morgen wird er zurückkehren. Vielleicht treibt es ihn auch zurück in die Einsamkeit, und er geht und kontrolliert die aufgestellten Fallen nach Beute. Ich lasse ihn nicht gerne so zurück. Letztendlich, geht mir durch den Kopf, leben wir von Erwartungen, die nicht erfüllt werden, und wundern uns, weshalb wir leer und traurig sind.
Wieder daheim, schliesse ich die Augen und träume von Kalabrien, das gar nicht so böse ist, wie ihm nachgesagt wird, sondern nur wild, eigenwillig und rau. Ich träume davon, ein stummes Einverständnis mit Antonio zu schliessen, dass ich wieder dahin zurückzukehren werde, irgendwann, um mir die Bäume und die Steine und die Blumen und die Spuren des Wolfes zuflüstern zu lassen.

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