Der Wolf geht um

Der Wolf steht für Wildnis, Kanada-Romantik. Taucht er in unseren Bergen, auf so bringt er die Gemüter durcheinander. Er fasziniert, er stört. Müssen wir ihn fürchten oder er uns?

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Seit Herbst 2011 leben im Calandagebiet und im Taminatal Wölfe, inzwischen ein ganzes Rudel, das erste in der Schweiz seit 150 Jahren. Aus den steilen Wäldern kommen sie manchmal herab in die Dörfer und haben schon manchem Menschen bei so mancher Begegnung einen Schauer eingejagt oder Faszination bei jenen hinterlassen, die die Wildheit lieben und vielleicht in ihrer Jugend oder später einmal Jack London gelesen haben.

Seit Sommer 2015 durchstreife ich als der vom Steinfach das kaum zwei Bergkämme entfernte Spitzmeilen- und Guschagebiet. Kein breites Tal, kein Zaun aus Autobahnen, Eisenbahnen und Siedlungslichterketten trennt das Dort der Wölfe vom Hier meiner Streifzüge. Ein Netz verzweigter Bergkämme verwebt dagegen beide Gebiete zu einer Einheit, in der unter dem weiten Sternenhimmel die Nachterde schwarz und konturlos daliegt und man höchstens von einem Vorsprung aus da oder dort, ungeahnt tief unten, ein einzelnes Licht erspäht, als markiere es ein Loch in der Einsamkeit. Kein Wunder, dass eigentlich immer, wenn ich hier mit einem Hirten im Gespräch war, die Rede schnell auf den Wolf kam. Mit jenem von Schaffans, mit dem ich an einem zu Schauern neigenden, heißen Julinachmittag auf den grauen Karrenfeldern, kurzes blühendes Sommergras zwischen löchrigen, skurrilen Felsformationen, darüber sprach, oder der von Halden, bei dem ich es war, der zuerst das Wort jenes Tieres in den Mund nahm. –„Sssscht“, hieß es da schnell, „reden wir besser nicht davon, sonst hört er uns noch.“

Ende August war ich nach drei Wochen Ferien zurück auf den Hochflächen, mit Zelt und einem Kollegen Biologen, der den Pflanzen nachsteigt wie ich den Steinen. Als wir uns nach individuellem Ausschwärmen beim Prudellhüttchen wiedertrafen, um gemeinsam zu rasten, erwähnte er wie nebenbei, er habe zwei Kothaufen gesehen, die von einem Wolf stammen könnten. Das taten sie wohl tatsächlich, denn wenige Tage später erzählte man es mir:

„Einer ist auf der Alp Halden und hat inzwischen mehrere Schafe gerissen.“

Hätte ich damals leiser reden sollen?

Man sei dem Täter auf der Spur, jedenfalls weiss das Dorfgespräch schon viel, die Leute sagen, es sei bestimmt einer mit Haushund-Genen, ein Halbblut, ein Wolfsblut… Gesehen wurde er allerdings nur einmal, vom Wildhüter, beim Gamszählen und mit dem Fernrohr vom Gegenhang aus. Ich bezog in jenen Tagen auch wieder Quartier auf der Alp Halden, und abends drehte sich das Gespräch in der Stube um Krisensitzungen mit den Bauern, den Wildhütern und Leuten vom Kanton, bei denen die verschiedenen Interessen zusammentrafen. Da ist der Hirte, der wehen Herzens allmorgendlich oft nur halbgetötete Schafe und Lämmer findet, über denen die Raben und Dohlen ihre Kreise lauernd bereits enger ziehen, da ist der Staat, der den Wolf schützt und jedem Schafbesitzer für jedes gerissenen Stück angeblich mehr bezahlt als den Marktwert, und der den betroffenen Alpen leihweise Herdenschutzhunde zur Verfügung stellt, und da ist schließlich der Wolf selbst, für den sich die fast lichtlose Schwärze unter dem Sternenhimmel, in der er über ein riesiges Angebot leichter Beute stolpert, Tag für Tag wieder in ein enges Labyrinth aus Schellengeläut und überall wandernden, fahrenden, redenden, hirtenden und kartierenden Menschen verwandelt.

Auch auf der Alpe Halden haben sie jetzt zwei grosse weisse, pyrenäische Herdenschutzhunde, vor denen ich nach Versicherung durch den Hirten, sie seien harmlos, meine Angst überwunden habe, und die mich tatsächlich, nachdem ich dem älteren, ihn am Hals kraulend, erklärt hatte, ich sei Geologe, friedlich passieren liessen. Auf der Glarner Seite aber halte sich ein Schafbauer privat einige Abruzzesen, so heisst es, und ich fragte mich, während ich den Grenzkamm gegen das Wissgandstöckli entlang ging, ob die auch so harmlos oder vielleicht eher wie jene Herdenschutzhunde sind, die ich vor vielen Jahren einmal im Vercors traf? Sie traten damals gemeinsam auf und ihre Botschaft war klar: „Kommt ja keinem Schaf zu nahe!“ Damit trieben sie zu viert uns sechs in grossem Bogen um die weidende Herde herum. Vor solchen Hunden habe ich Respekt, vielleicht sogar Angst. Dem Wolf aber würde ich gerne begegnen…

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…an einem grauen, kühlen Oktobermorgen unter bedecktem Himmel im leeren Gebirge. Irgendwo auf den Karrenfeldern, kurzes, braungoldenes Herbstgras zwischen skurrilen, löchrigen Felsformationen, hager ist er, gross, das Fell im Föhnsturm lodernd wie das kurze Herbstgras, und der Blick, den meinen treffend, klar, wägend, kühl und doch so, dass er eine Welle weckt, die mir aus dem tiefsten Innern des Bauches bis in die Zehen und Haarwurzeln schiesst. Ein „outlaw“ er, wie ich selbst in wilden, ungestümen Jugendträumen manchmal war und vielleicht heimlich immer noch bin, überall gejagt, angstvoll und kühn und frei.

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