Die Alpen aus der Luft

Die Faszination eines Fluges über die Alpen in zwei Büchern, die man wegen ihrem Format und Gewicht wohl nicht ins Fluggepäck mitnehmen würde. Muss man ja auch nicht. Im Sofa sitzend erlebt man Fels und Eis aus ungewöhnlicher Perspektive.

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„Einmal fliegen wir ganz nahe an den Gipfel des Finsteraarhornes. Die Entfernung zwischen dem Felsen und unserem Flügel, sagt der Pilot, habe keine dreißig Meter betragen. Jedenfalls wird das Gestein wieder greifbar. Die plötzliche Lust zum Klettern, überhaupt die Gier, den Dingen wieder näherzukommen. Nicht aus Angst vor dem Schweben; wir fühlen uns ja, wie gesagt, unverschämt sicher in unserem Polster, und der Gedanke, dort drüben auf dem schwärzlichen Grat zu stehen, gibt erst wieder ein Gefühl von Gefahr, aber auch von Wirklichkeit. Es geht gegen sieben Uhr abends, eine Stunde, wo ich noch nie auf einem solchen Gipfel war; es ist wunderbar für das Auge, aber vermischt mit einer Unruhe eines verspäteten Kletterers; die Täler im Schatten, violett, die letzte Sonne auf einer Gwächte, grünlich durchschimmert; erst durch den unwillkürlichen Kniff, daß man sich in die Lage eines Kletterers versetzt, wird alles wieder ernsthaft und erlebbar, wirklich und schrecklich.“

Ausschnitt aus dem mit „Nach einem Flug“ betitelten Eintrag im „Tagebuch 1946-1949“ von Max Frisch, das 1950 im Suhrkamp Verlag erschien. Allerdings hatte Frisch bereits 1947 im Atlantis Verlag das „Tagebuch mit Marion“ veröffentlicht, das Einträge aus den Jahren 1946 und 1947 enthält; darunter auch denjenigen über den Alpenflug.

Die Faszination eines Fluges über die Alpen ist nun in zwei neuen Bildbänden erlebbar. Unter der Schirmherrschaft der Unesco entstand der grossformatige, gut fünf Kilogramm schwere Bildband „Die Alpen“ mit Fotos des Slowenen Matevž Lenarčič. 250 Fotos, davon 200 auf Doppelseiten, porträtieren fast die gesamte Alpenregion zwischen Monaco und Ljubljana. Atemberaubende Aufnahmen, oft aufgenommen in den Abendstunden, wenn die Kletterer selten auf den Gipfeln stehen, zeigen die Vielfalt des berühmtesten Gebirges Europas in einem neuen Licht und in einer oft neuen Perspektive. Und zwar in den vier Teilen südliche, westliche, zentrale und östliche Alpen; innerhalb davon folgt die Abfolge der Fotos aber nicht einem geografischen, sondern einem ästhetischen Schema. Also nicht Meije, Mont Blanc, Matterhorn und dann Mönch, sondern Gras und Gletscher, Hörner und Häuser, Grate und Gipfel, gekonnt gemischt. Das Finsteraarhorn natürlich, das Weisshorn, der Watzmann, die Mala Baba (2018 m). Oder vielleicht auch der Mala Baba. Noch nie gehört, noch nie gesehen, vorher. Jetzt ist sie da, wunderschön im Winterkleid und rötlichen Licht – aber ob sie es wirklich ist oder nicht der Gipfel hinten im Nachtschatten, ist nicht ersichtlich. Denn die Bildlegenden in diesem gewichtigen Bildband sind leider häufig ziemlich flüchtig: Anstatt genau zu schildern, was abgebildet ist, stehen andere Infos, die hoffentlich besser sind als diejenige zum Schreck- und Lauteraarhorn (die beiden Gipfel werden auch nicht auseinandergehalten): „Große Eismassen gleiten ostwärts und versorgen die Aar mit ihrem Schmelzwasser, die auf dem Grimsel-Pass zuerst in den Grimsel-Stausee fließt und dann weiter nach Norden zur Hauptstadt Bern.“ Textbeiträge von Chris Bonington, Hans Haid, Janez Bizjak, Roland Dellagiacomo, Werner Bätzing und anderen Experten zu Themen wie Wein und Wald, Gewässer und Gletscher, Landschaft und Schutzgebiete runden das Prachtsbuch ab.

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Nur ein Gebiet der Alpen, dafür eines der spektakulärsten, hat sich der Schweizer Luftbildfotograf Ulrich Ackermann vorgenommen: die Dolomiten, ebenfalls ein Unesco-Weltnaturerbe wie die Schweizer Alpen mit Jungfrau, Aletsch und Bietschhorn. Ackermann hat die Kalkzinnen in Italien so fotografiert, wie er schon die Freiburger Alpen erfasst hat, nämlich im extremen Hochformat. Passend für die vertikale Welt der Dolomiten, eigentlich. Und tatsächlich gibt es ganz starke Fotos, wie diejenigen der Guglia di Brenta oder des Sass Maor. Die gut 1000 Meter hohe Mauer der Civetta wirkt im Breitformat von Lenarčič hingegen mehr als im Hochformat von Ackermann. Kommt dazu, dass das Überraschende eines schmalen Bildes, das von der Felsspitze oben bis zum Chalet oder Dorf unten die Vielfalt einer Landschaft hervorhebt, in „Dolomiten vertikal“ zu wenig zum Ausdruck kommt. Vielfach einfach Felsen, schön beleuchtet. Die Kletterer muss man sich vorstellen.

Matevž Lenarčič: Die Alpen. Delius Klasing, Bielefeld 2010, Fr. 99.90

Ulrich Ackermann: Dolomiten vertikal. Das Weltnaturerbe aus der Luft. Tyrolia Verlag, Innsbruck 2010, Fr. 43.50

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