Albrecht von Haller reloaded. Das Buch mit dem gleichen Titel wie das berühmte Alpengedicht beleuchtet Umwelt und Politik, Gesell- und Wirtschaft zwischen Mittelmeer und Wienerwald. Gereimtes und Ungereimtes aus der Gebirgswelt in zehn spannenden, wissenschaftlich fundierten Kapiteln.
„Kein unzufriedner Sinn zankt sich mit seinem Glücke,
Man ißt, man schläft, man liebt und danket dem Geschicke.“
Hört sich gut an, nicht wahr? Ein Paradies auf Erden. Genauer: in den Bergen. Denn die beiden Zeilen, Nr. 79 und 80, stammen aus dem 1732 publizierten Lehrgedicht „Die Alpen“ von Albrecht von Haller. In 49 kunstvollen, zehnzeiligen Strophen beschreibt der Berner Universalgelehrte die Schönheit der Schweizer Bergwelt und das einfache, glückliche Leben ihrer Bewohner. Begierig und sehnsuchtsvoll lasen die Städter „Die Alpen“, und machten sich auf, den Schauplatz selbst zu sehen und zu erleben. Ob sie den streit- und hungerlosen, lieblichen Ort wohl fanden in den Bergen? Vielleicht, mit den Gedichtseiten als Scheuklappen. Denn in Wirklichkeit glich das Leben in den Alpen häufig einem mühsamen Überleben, jedenfalls für die Bewohner auf der Schattenseite der Gesellschaft.
Wer mehr dazu erfahren möchte, sollte ein ganz neues Buch aufschlagen, das so heisst wie Hallers Bestseller, dessen Inhalt freilich weniger gereimt daherkommt. Dafür macht es sich einen Reim auf die ganzen Alpen, behandelt gekonnt den Raum, geht wunderbar auf die verschiedenen Kulturen ein, verbindet geschickt die gebirgige Geschichte mit derjenigen aus dem Tiefland, beleuchtet pointiert Umwelt und Politik, Gesell- und Wirtschaft zwischen Mittelmeer und Wienerwald. Ein Werk aus einem Guss, wissenschaftlich und doch gut lesbar, die Anmerkungen und Literaturhinweise fein säuberlich hinten gebündelt. Statt zehnzeilige Strophen zehn Kapitel, von den Alpen in der europäischen Geschichte über die Lebensbewältigung unten und oben, die Hydroenergie und den Tourismus bis zur Europäisierung und Ökologisierung. Der Verfasser dieser neuen „Alpen“ heisst Jon Mathieu, Geschichtsprofessor an der Universität Luzern und Forschungsrat im Schweizerischen Nationalfonds, wohnhaft in Burgdorf an der Alpenstrasse mit Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Er war Gründungsdirektor des Istituto di Storia delle Alpi an der Università della Svizzera italiana und hat mehrfach über die Alpen und die Berge allgemein publiziert. Für seine Forschungen wurde er mit dem King Albert I Mountain Award ausgezeichnet.
Jon Mathieus „Die Alpen. Raum – Kultur – Geschichte“ ist ein königliches Buch mit 254 Seiten und 86 starken, genau beschriebenen Abbildungen. Den farbigen Tafelteil über die Alpen in Malerei und Gebrauchskunst vom 14. zum 20. Jahrhundert sollte man sich keineswegs entgehen lassen. Nur bei der Legende zur Panoramatapete „Vues de Suisse“ der elsässischen Manufaktur Zuber von 1804 findet sich ein kleiner Klecks: Der abgebildete Berg zeigt nicht das Matterhorn, sondern das Kleine Wellhorn oberhalb des Rosenlauigletschers im Berner Oberland, an der touristisch schon ziemlich stark frequentierten Route über die Grosse Scheidegg, die auch Albrecht von Haller vielleicht begangen, sicher aber gekannt hat. Horn und Gletscher liegen seit 2001 im Unesco-Weltnaturerbe Jungfrau-Aletsch.
„Der Alpenraum verwandelte sich seit dem 20. Jahrhundert auch in eine Landschaft von Nationalparks und Schutzgebieten. Sie machen gegenwärtig schon etwa ein Viertel der Gesamtfläche aus“, schreibt der Berner Gelehrte ganz am Schluss seines jüngsten Buches. Diese Naturparkbewegung deute an, „dass die Alpen im Vergleich zum flachen Land auch in Zukunft ein abwechslungsreicher, lebenswerter und faszinierender Raum sein werden. Trotz aller historischen Narben stehen da weiterhin mehr als achtzig Viertausender, die uns von ferne zulächeln.“
Jon Mathieu: Die Alpen. Raum – Kultur – Geschichte. Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 2015. Fr. 51.90.
Die Buchvernissage findet statt am Donnerstag, 20. August 2015, um 19 Uhr in der Buchhandlung Haupt am Falkenplatz 14 in der vorderen Länggasse in Bern, fast auf halbem Weg zwischen dem Hallerdenkmal auf der Grossen Schanze und der Hallerstrasse. www.haupt.ch/Events/Jon-Mathieu-Die-Alpen.html
Und: Wer die Panoramatapete mit dem falschen Matterhorn live sehen möchte, sollte sich ins Schloss Hünegg in Hilterfingen am Thunersee aufmachen. Die Sonderausstellung „Delightful Horror“ widmet sich (inklusive Haller) der Erhabenheit der Alpen und dem frühen Fremdenverkehr im Berner Oberland (bis 18. Oktober 2015); www.schlosshuenegg.ch/museum-2/sonderausstellung/