Bergliteratur der unbekannten Sorte: Gebirgspoesie! Ein leichtes kleines Bändchen für den Rucksack und als Aufforderung, die Berge auf unserer nächsten Tour anders oder gar etwas bewusster wahrzunehmen.
Wintermorgen im Gebirge
Über den Alpenwall,
Mausnackt, schneeblaß, eisgrau
Und dann kühldämmernd blau
Erhob sich aus schwarzem Tal
Die Sonne. Es lief die Gipfelschnur
Auf und ab durchs rote Gestirn,
Umriß wie mit kohlschwarzem Zwirn
Fleischblutig die Herzfigur.
Das Herz schwebte schimmernd und dröhnte
Vor dem bleichen Hintergrund,
Stieg siegreich dann auf ins ersehnte
Blaue, nun goldstückrund.
Die silberne Alpenkette
Schaukelte auf und ab.
Aus befiedertem Wolkenbette
Warf lichtjubelnd die fette
Goldfaust nun Stab um Stab.
Da hat der deutsche Dichter Georg Britting (1891 – 1964) genau hingeschaut, um einen winterlichen Sonnenaufgang zu beschreiben. Mit Wörtern, die wir sonst kaum gebrauchen, nicht in einem Gedicht und erst recht nicht in einem über die Berge: mausnackt, fleischblutig, goldstückrund. Die silberne Alpenkette, das haben wir vielleicht schon mal gelesen, schneeblass hört sich auch nicht gänzlich ungewohnt an. Ein Berggedicht, das uns einladen könnte, das nächste Erwachen des Tages etwas bewusster wahrzunehmen. Zum Beispiel auf einer Skitour, zu der wir nun fast in der Dämmerung aufbrechen müssen, damit sich der Schnee bei der Abfahrt butterfirnig und nicht tiefsumpfig zeigt.
Nach dem letzten Schwung auf dem letzten weissen Flecken lehnen wir uns an die warme Holzwand eines Stadels und habe alle Zeit, ein Buch zu lesen, das gut im Rucksack Platz hat, neben Lawinenschaufel, Harscheisen, Sonnencreme, Skitourenkarte und –führer. Das Reclambändchen ist leicht und klein, hübsch und günstig, hat 128 Seiten und 86 Gedichte über die Berge, von Angelus Silesius und Hans Arp bis Albin Zollinger und Carl Zuckmayer; von Georg Britting hat Herausgeber Dietmar Jaegle gar drei Gedichte ausgewählt. Geordnet ist die Gebirgspoesie nach den Themen „Der Berg als Bild“, „Aus der Ferne“, „Im Berg“, „Hinauf, hinab und unterwegs“ sowie „Oben!“. Da gibt es viel zu entdecken, zu lesen, zu überlegen, zu begreifen. Dass Conrad Ferdinand Meyer und Hermann Hesse angesichts der Berge zur Feder griffen, hat man möglicherweise im Schullesebuch gesehen. Aber Britting eben, oder Wang Wie und Elisabeth Kulmann: Bergliteratur der unbekannten Sorte.
Von Roman Büchner (geb. 1963) aus Chur stammt das Gedicht „Kloster am Berg“, das den Dominikanerinnen von Ilanz gewidmet ist; unweit dieser Stadt am Rhein, in Flims nämlich, verbrachte ich eine sonnige Woche im Schnee.
Gast und Gebirge offen im Blick,
den mit den Augen voll Berg und Begehren,
das mit dem Fluss im lebendigen Tal.
Beides beständig vor Augen.
Leben in einer Landschaft aus verlässlichem Stein,
verlässlicher noch: das ewige Leben.
Die Berge. Gedichte. Herausgegeben von Dietmar Jaegle. Reclam, Stuttgart 2012, Fr. 6.50.