Der neue Weg von der Salbit- zur Voralphütte führt gut gesichert durch Gebiete, die einst nur wilde Kletterer interessierten. Publikumsmagnet ist die 90 Meter lange Salbitbrücke – ein Wandererlebnis der besonderen Art.
Zaghaft schreite ich über die Hängebrücke, die unter meinen Schritten sanft zu schwingen beginnt. 120 Meter unter mir die Schlucht, schwarz im Schatten noch, die Chli Chäle, die sich vom Salbit Südgrat ins Voralptal hinabzieht. Gegenüber die Türme des Westgrates, der Gipfel des Turm 2 leuchtet schon im Licht Morgensonne. Thornton Wilders Erzählung «Die Brücke von San Luis Rey» fällt mir ein, die schönste Brücke Perus, die am 20. Juli 1714 riss und fünf Menschen in den Tod riss. Ich aber bin jetzt allein und halte mich an den dicken Stahlkabeln fest, die bestimmt nicht reissen, denke ich, ausser die Brücke gerate in sich immer mehr aufschaukelnde Eigenschwingung, die schon Stahlbetonbrücken zum Einsturz brachte. Ich versuche also, meine Schritte so zu dosieren, dass die Konstruktion nicht in Resonanzschwingungen gerät. Sicher ist sicher. Am andern Ende erschrecke ich: ein Rudel Gämsen springt auf und flieht über Felsstufen und Blockfelder.
Drüben in den Felsen höre ich Stimmen, eine Seilschaft klettert an der Grenze zwischen Licht und Schatten. Es ist ein klarer Morgen wie jener des 24. September 1961, als ich mit meinem Freund Hansruedi Horisberger die Südostwand des Turms 2 kletterte, einen steilen Granitpfeiler, eine der schwersten Routen damals im Gebiet. Gestern Abend habe ich in der Salbithütte von den langen glatten Rissen erzählt, die wir damals mit Holzkeilen in technischer Kletterei überwanden. Es gab weder Keile noch Friends damals. Wir schlugen die Holzkeile der Erstbegeher heraus, weil wir selber viel zu wenige dabei hatten, verwendeten sie weiter oben wieder. Ein ganz dicker brach aus, Hansruedi stürzte weit, doch auch unser Seil riss nicht. Nach sechseinhalb Stunden standen wir auf dem Gipfel, mit zerschunden Händen und vollständig dehydriert. Wir hatten unter einem Biwakstein im Horefelliculoir übernachtet, ohne einen Tropfen Wasser, und ohne Wasser kletterten wir den ganzen heissen Tag, schliesslich wurden es zwanzig harte wasserlose Stunden.
Während ich jetzt an Drahtseilen auf gutem Weg die steilen Schrofenhänge gegen das Couloir hinabsteige, komme ich mir vor wie in einem Film. Sehe den zwei Jungen zu, die sich noch nachtschlafen und in Dunkelheit über diese abschüssigen Hänge emporquälen, mit Rucksäcken voller Klettermaterial aber ohne Wasserflasche. Mir schaudert. Und mir schaudert unten im Grund der Schlucht, wo eine Tafel empfiehlt, sie schnell und einzeln zu überqueren. Denn ein Blick hinauf zur Rückseite der Türme zeigt, dass in der Höhe Bruchwände drohen, loses Gestein, riesige Blöcke, die jederzeit herniederstürzen können. Auch der Geruch des Granitstaubs dieser Steinschlagzone erinnert mich an damals. «In den Türmen des Salbitschijen» hiess die Geschichte, die ich über unser Abenteuer in der Zeitschrift «Die Alpen» veröffentlichen konnte. Mein erster gedruckter Text überhaupt. Ich hatte damals entdeckt, dass ich während des Winters die Erlebnisse des Sommers immer wieder durchleben konnte, wenn ich sie aufschrieb. Ich litt, wenn ich nicht klettern konnte, das Schreiben milderte mein Leiden. Und so wurde ich schliesslich zum Autor, zum Berufsautor.
Und ich denke auch daran, wie uns in dieser Schlucht einst eine gewaltige Schnee- und Felslawine beinahe getötet hätte. Es war in einem Frühsommer, nach der Kletterei in den Türmen rutschten wir auf festem Schnee das Couloir hinab. Etwa eine Viertelstunde nachdem wir es verlassen hatten, ging die Lawine nieder.
Und nun ist hier ein Weg. Schön markiert und gesichert. Drahtseile, Eisenstifte. Rasch steige ich Stufe um Stufe auf einer langen Leiter die Wand auf der andern Seite der Schlucht hinauf. Wie in einem Film eben, so als schwebte ich über das Abenteuerland meiner Jugend hinweg, leichtfüssig und beinahe gefahrlos.