Die Geschichte der Suche nach dem höchsten Berg der Erde ist ein spannender Aspekt im neuen Buch von Jon Mathieu. Der renommierte Historiker wohnt in Burdorf, doch sein Blick reicht weit über die Berner Alpen vor seiner Haustür hinaus.

„In der Mitte des 17. Jahrhunderts zählte der Gelehrte Bernhard Varenius in der seiner Geographia Generalis die bekanntesten Gebirgszüge und höchsten Berge auf. Bei den Gebirgszügen begann die Liste mit den Alpen und anderen damit zusammenhängenden Erhebungen, ging dann zu den Anden und weiteren, allerdings namenlosen Gebirgen der ‚Neuen Welt‘, um erst an fünfter Stelle den Blick in Richtung Osten zu wenden (Taurus, Kaukasus usw.). Die Liste der höchsten Berge sah wie folgt aus: 1. Gipfel von Teneriffa (heute Pico del Teide, 3720 m), 2. Gipfel der Azoren, 3. Anden, ohne Spezifizierung, 4. Ätna auf Sizilien, 5. Hekla auf Island, und erst an 6. Stelle kam ein asiatischer Berg, nämlich der schon bei Marco Polo erwähnte legendäre Adamsberg auf Ceylon (Sri Lanka).“
Nun, auch in der Schweiz, wo man eigentlich ein Gespür für die Berge haben sollte, galt der Gotthard am Beginn der Neuzeit noch als höchster Berg. Da kann man es dem Norddeutschen Varenius, der zeitlebens nie einen hohen Berg sah, nicht verargen, dass seine Liste der höchsten Berge der Welt nicht von der wirklichen Höhe ausging, sondern von damals bekannten hohen Gipfeln. Und da war der Teide, an dem die Schiffe auf dem Weg nach Amerika sozusagen vorbeifuhren, schon ein sehr, sehr hoher Berg, nämlich ungefähr so hoch wie der Grossglockner, heute der Kulminationspunkt von Österreich, aber direkt vom Meer aus sich empor hebend.
Die Geschichte der Suche nach dem höchsten Berg der Erde ist ein spannender Aspekt im neuen Buch von Jon Mathieu, Geschichtsprofessor an der Universität Luzern und an der ETH in Zürich, Gründungsdirektor des Istituto di Storia delle Alpi an der Università della Svizzera italiana in Mendrisio, privat wohnhaft an der Alpenstrasse in Burgdorf, mit Blick auf die Berner Alpen. Da hat er also das Studienobjekt direkt vor sich, im Gegensatz zu Varenius.
Jon Mathieus Buch „Die dritte Dimension“ zeichnet die Geschichte der Berge in der Neuzeit nach, und zwar weltweit, was es auch so spannend macht, weil da einer einen sehr grossen Überblick hat und weitergibt, und nicht am nächsten (nationalen, sprachlichen oder ideologischen) Hoger hängen bleibt. Wie Mathieu schreibt, war die Eroberung der Fläche Voraussetzung für die Eroberung der Höhe, „das vertikale Pendant zur horizontalen Entdeckungs- und Eroberungsgeschichte“. Tatsächlich war die von technischen Durchbrüchen begleitete Suche nach dem höchsten Berg der Welt einer der entscheidenden Antriebe für deren wissenschaftliche Erforschung, wie sie bahnbrechend Alexander Humboldt vorangebracht hatte. Vor allem das 19. Jahrhundert stand ganz im Fokus dieser wissenschaftlichen Pioniere, die Geologie, Geographie, Botanik, Glaziologie, Medizin und Kartographie gleichermassen interessiert, und, erst mit reichlich Verzögerung nach dem Zweiten Weltkrieg schliesslich auch die Menschen, die in den Gebirgen der Welt lebten.
Die Tatsache aber, dass heute auch die Welt der Berge Teil des globalen Dorfes geworden ist, darf laut Jon Mathieu nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit das gegenseitige Verständnis über die Gebirgszüge hinweg nicht zwangsläufig gewachsen ist. Das kolonialistisch anmutende Gebaren vieler Trekking-Touristen, etwa in Nepal, aber auch die hierzulande bis in die hohe Politik vorherrschende Ignoranz gegenüber den Problemen im eigenen Gebirge, den Alpen, zeigt den grossen Nachholbedarf für das Verständnis der dritten Dimension. Das Buch von Mathieu leistet dazu einen wichtigen Beitrag.
Mehr noch: Mit dem genauen Register und der umfangreichen Bibliographie ist es auch ein Nachschlagwerk und Lektüreratgeber. Es muss ja nicht unbedingt dieses Buch sein: Geographia Generalis. In qua affectiones generales Telluris explicantur Autore Berh. Varenio, Amsterdam 1650.
Jon Mathieu: Die dritte Dimension. Eine vergleichende Geschichte der Berge der Neuzeit. Schwabe Verlag, Basel 2011, Fr. 58.-