Wenn die Briten nach dem Brexit die Höhe der Berge wieder in Fuss messen, werden sie auch die Alpingeschichte umschreiben müssen: die magischen Metergrenzen werden wegfallen. So mancher Viertausendersammler wird alt aussehen. Das besprochene Buch könnte dazu anregen, sich von der Fixierung auf Meterhöhen zu verabschieden und die Berge mit andern Augen zu betrachten.
„Il Bietschhorn è una montagna snob: prima di tutto perché, come tutti i tremilanove, snobba i quattromila limitandosi a sfiorarli, ma lui superandoli per slancio e bellezza, poi perché si è fatto conquistare da Leslie Stephen per cui le Alpi altro non erano che ‘il terreno di gioco dell’Europa’.“
Pointiert formuliert vom italienischen Bergführer und Schriftsteller Alberto Paleari im Buch über die Fast-Viertausender der Alpen. Über die Gipfel also, die wie das Bietschhorn die magische Grenze von 4000 Meter verpassen, rein rechnerisch. Dafür einige der Viertausender übertreffen dank ihrer Gestalt und Schönheit. Und wenn, wie beim König des Lötschentals, noch der berühmte Erstbesteiger Leslie Stephen eine Hauptrolle spielte, dann gehören solche „3900 delle Alpi“ eben zu den ganz besonderen Gipfeln der Alpen.
Einer von ihnen ist zweifelsohne das Fletschhorn: Bis 1952 gehörte es noch zum noblen Kreis der Viertausender der Alpen, mit 4001 m allerdings nur knapp. Heute ist der mächtige Gipfel zwischen Simplon und Saastal nicht einmal mehr die Nummer 1 der schweizerischen Fast-Viertausender. Der Piz Zupò im Bernina-Massiv überragt ihn um elf Meter. Dabei musste dieser Gipfel auf dem Grenzkamm zu Italien das gleiche Schicksal erleiden wie sein Konkurrent in den Walliser Alpen: Als die Basis der schweizerischen Höhenmessung, der Pierre du Niton im Hafenbecken von Genf, neu vermessen und in der Folge tiefer gelegt wurde, verlor auch der Zupò die begehrte Vier an erster Stelle seiner Höhenangabe. Allerdings konnte der zwischen dem Piz Bernina, dem einzigen 4000er der Ostalpen, und der Bellavista (3922 m) versteckte Piz („zupò“ heisst auf Romanisch „versteckt“) seine Höhe seit der Degradierung bewahren. Ja, er wuchs von 1985 bis 1991 gar um 30 Zentimeter von 3995.7 auf 3996 m, wenigstens auf dem Blatt „Piz Bernina“ der Landeskarte der Schweiz im Massstab 1:25‘000. In dieser Zeitspanne wurden die Kommastellen bei den Triangulationspunkten vierter Ordnung, und der Piz Zupò ist so ein Punkt, ab- oder aufgerundet. Demgegenüber hat das Fletschhorn im Laufe der Jahre an Höhe eingebüsst, von 3998 bis auf 3985 Meter.
Es hätte für diesen stolzen Gipfel, der mit seiner fast 2000 Meter hohen Nordseite mehr Eindruck als mancher Viertausender macht, noch schlimmer kommen sollen. Der Gemeinderat von Saas Grund wollte nämlich Ende der 1980er Jahre das Fletschhorn künstlich zum 4000er erhöhen und damit die touristischen Einnahmen steigern. Denn für viele Berg-Besteiger zählen nur die Gipfel oberhalb der ominösen Grenze. Wer unter dem Strich liegt, wird oft weniger beachtet. Dabei stehen in den Reihen der höchsten Dreitausender ein paar herausragende Gipfel. Fletschhorn, Piz Zupò und Bietschhorn sind nur drei einer von ihnen.
Der neue Führer „I 3900 delle Alpi“ beschreibt 49 Fast-Viertausender, von der Grivola über den Pic Sans Nom im Écrins-Massiv, die Aiguille Sans Nom im Montblanc-Massiv, die Wellenkuppe und den Eiger bis zum Pizzo Palù und Ortler. In meinem Buch zum Piz Palü listete ich 52 Gipfel auf, beispielsweise noch den Westgipfel (3984 m) der Droites oder die Calotte de Rochefort (3974 m). Das Buch von Alberto Paleari, Erminio Ferrari und Marco Volken hat seinerseits den Südgipfel (3971 m) des Lagginhorns, die Pointe Pfann (3983 m) und die Dent Zsigmondy (3936 m) berücksichtigt. Zählt man alle aufgeführten Gipfel zusammen, sind es 55 3900er. Das sollte für mindestens einen Sommer reichen.
Hans Grossen, Wintererstbegeher des Südostgrats des Bietschhorns, schreibt in seinem Standardwerk zu den 100 schönsten Touren im Berner Oberland, die Lötschentaler hätten es „den schönen Augen einer Wirtstochter zu verdanken, der zuliebe es der mit der topographischen Vermessung beauftragte Ingenieur eingerichtet haben soll, daß der Berg ein Viertausender wurde. Der Wirt hatte seiner Tochter entsprechende Order gegeben, und Liebe kann bekanntlich Berge wachsen lassen…“. Einer späteren Nachmessung hätten die 4003 Meter jedoch nicht stand gehalten. Alberto Paleari nahm die Notiz aus Grossens Buch zum Anlass, die schöne Liebeshöhengeschichte des Bietschhorns literarisch zu verarbeiten. In seinem 2000 erschienenen Erzählband „Il viaggio del ‚Viaggio di Oreste P.‘“ veröffentlicht er einen Briefwechsel zwischen der hübschen Lötschentalerin Rosa Ebner und ihrem Bruder, worin sie ihre Liebe zum attraktiven Ingenieurtopografen – er heisst bei Paleari Hauptmann Edmund Von Lüge – beichtet, und dabei zugleich die Wichtigkeit eines Viertausenders im Tal betont.
Alberto Paleari, Erminio Ferrari, Marco Volken: I 3900 delle Alpi. MonteRosa edizioni, Gignese 2016, Euro 29.50, www.monterosaedizioni.it