Wenn ein junger Autor über ein älteres Ehepaar schreibt und das auch noch in «einer fliessenden Textur von Beschreibung, Rede und Gedanken», kann man als älterer Leser nur gespannt sein auf die Lebensbeichte in den Engadiner Bergen. Wanderungen sind offenbar oft auch Wanderungen in die eigene Vergangenheit, sei’s im Engadin oder auch in der kalifornischen Wilderness wie im zweiten besprochenen Buch.
„Schau di Seen, sagt sie und streckt die Arme aus, und die Berge, und die Wälder, und das Licht, und wie schön der Himmel ist. Sie lächelt und schliesst die Augen. Ja ja, sagt er, im Wald sind wir alle gleich, als ob man das noch nie gesehen hätte, das ganze Leben haben wir in den Felsen verbracht, ein Stein ist immer noch ein Stein. Und der See, wie ein toter Fisch liegt er in der Ebene. Und plötzlich ziehen Wolken auf grau wie Schiefer, und zackbum donnert’s und hagelt’s und du wirst vom Blitz getroffen, das geht dann schnell hier oben, hier sind wir auf achtzehnhundert, und wenn du Pech hast, sind die Berge zornig und schmeissen Steine gross wie Kühe auf dich runter und demolieren dir das ganze Haus und begraben dein Hab und Gut auf ewig, von wegen Frieden in den Bergen, das sagt nur, wer im Beton aufgewachsen ist. Komm jetzt, wir gehen wieder runter und suchen die Küche. Und dieser Wind, sagt sie, der macht einen ganz leicht unter der Haut.“
Schon mal gehört, diesen so ganz speziellen Sound? Diesen Stil: eine Mischung von Hoch- und Dialektdeutsch, manchmal auch versetzt mit Rätoromanisch, eine fliessende Textur von Beschreibung, Rede und Gedanken. Ihr Verfasser ist Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Bündner Oberland geboren. 2009 erschien „Sez Ner“, ein hautnaher Text über einen Hirtensommer auf der Alp Stavonas (1971 m) unterhalb des Piz Sezner, vorgestellt als eines der ersten Bücher der Woche auf www.bergliteratur.ch. Nun also sein jüngstes Werk, eben herausgekommen in seinem Hausverlag Engeler.
„Die Kur“ heisst es schlicht. 92 Seiten mit 47 Episoden eines älteren Ehepaares, das dank eines Tombola-Gewinnes ein paar Tage im Fünf-Stern-Hotel „Waldhaus-Sils“ verbringen darf – oder muss. Er mit Dächlikappe, Plastiksack und Pessimismus, sie mit Offenheit, Träumen und Optimismus. Mann und Frau, verloren in einem neuen Lebensabschnitt, wenn auch nur für ein paar Tage und Nächte, zugleich sich erinnernd an das gelebte Leben, das Schritt für Schritt hervorkommt und sich vermischt mit der ungewohnten Situation in der Hotel- und Berglandschaft des Engadins. Ganz einfach ist die Sprache, ganz einfach ist es aber nicht für die Beiden dort oben. Mit „Im tiefen Wald“ ist das letzte Bild überschrieben – ob sie da rausfinden?
Eine Frage, die sich ebenfalls die Hauptfiguren im zweiten Buch stellen müssen, das ich in den Sommerferien gelesen haben: „The Mountain Story“ der US-amerikanischen Schriftstellerin Lori Lansens, 1962 im Staate Michigan geboren und aufgewachsen, heute in den kalifornischen Santa Monica Mountains lebend und arbeitend. Ihr viertes Buch schildert das Überleben von vier Leuten am San Jacinto Peak (3302 m) oberhalb Palm Springs in Südkalifornien. Wolf, der eigentlich an diesem grossartigen, innig geliebten Berg sein unstetes und unglückliches Dasein beenden will, trifft zufällig auf drei Frauen (Grossmutter, Mutter und Enkelin, wie sich dann herausstellt). Er will ihnen helfen, einen geheimnisvollen See zu finden. Was wegen eines Schlechtwettereinbruchs nicht gelingt, schlimmer noch, sie verfehlen den Weg, landen sozusagen im tiefen Wald, müssen Spuren suchen, nicht nur in der Wildnis, sondern ebenfalls in ihrem bisherigen Leben. Höchst spannend, wie Lori Lansens diese unterschiedliche Wegsuche vermischt. Genaugenommen ist es eine Beichte, die der Ich-Erzähler Wolf seinem Sohn Daniel schreibt. Vater-Sohn-Gespräch am Schluss des Buches:
„Will you take me there someday?“
„To the mountain. No.“ I was emphatic.
„Do you wish you never got lost?“
Eine Frage, die sich vielleicht auch das Rentnerpaar in „Die Kur“ stellte.
Arno Camenisch: Die Kur. Engeler-Verlag, Solothurn 2015, Fr. 25.-
Lori Lansens: The Mountain Story. Simon & Schuster, London 2015, Fr. 23.90