Die Mythen

Seit dieser Woche gibt es ein mystisches, eidgenössisch verlässliches, kunst- und stilvolles, hintergründiges und festlich illustriertes Buch. Emil Zopfi hat seine vierte Bergmonographie dem «Matterhorn der Wanderer» gewidmet.

„Das Schiff wendet — da fährt es an der Treib vorbei, das alte originelle Haus im See umflammt buntes, bengalisches Feuer; weiter, immer weiter — da liegt der Mythenstein, das Denkmal Schillers, Flammen umzüngeln den alten, einsamen Felsblock, auch er strahlt im Festkleide. Doch da kommt es, das ‚stille Gelände am See‘, das Rütli; Flammen steigen auf, Raketen ziehen empor, die Musik intoniert: ‚Von ferne sei herzlich gegrüßet‘ und heilige Begeisterung erfaßt alle. Es war ein unvergeßlicher Augenblick.

Weiter braust der Dampfer gen Flüelen. Enger wird der See, es ragen die mächtigen Felsen des Gitschen und Axenbergs hoch in die sommerliche Sternennacht. Im Hintergrunde glänzt im milden Mondlichte die stolze Pyramide des Bristen. Plötzlich flammen auch die Ufer auf und ganz Flüelen grüßt in festlicher Beleuchtung die Clubisten. Langsam dreht der Dampfer zur Rückfahrt, im prachtvollen Lichtschmucke erglänzt Tells Kapelle, vom Sonnenberg-Seelisberg entzückt ein mächtiges Feuerwerk das Auge. Da beim Nahen von Brunnen auf einmal wird’s lebendig, überall flammt’s auf, es zischen von Axenstein und Axenfels die Raketen gegen den See, Hotels, Villen, ganz Morschach und Brunnen erglänzen in zauberischem Farbenglanze. Ein bewunderndes ‚Ah‘ der Teilnehmer bezeichnet dies als den Glanzpunkt der Nachtfahrt.

Es ist 10 Uhr geworden, unser harrt der Extrazug, vom hohen Mythen erglänzt das Bundeskreuz in mächtigen Flammen feurig in die Lande. Bald sind wir in Schwyz; ob da programmmäßig die Clubisten gleich ihre Penaten aufsuchten, das zu erzählen verschweigt klüglich dieser wahrheitsgetreue Bericht.

Der Montag war dem Patron der Sektion, dem Mythen, gewidmet. An Klarheit des Himmels übertraf er womöglich noch das Festwetter der vorausgegangenen Tage. Trotz rechtzeitiger Tagwache der Festmusik war der Aufbruch der Clubisten kein sehr geordneter, wohl eine leicht verzeihliche Folge des Nachtfestes am Sonntag. Doch vereinigte gegen 9 Uhr morgens die schlanke Mythenspitze gegen 200 Clubisten, gerade genug, um bequem Platz zu finden. Die Aussicht war herrlich ringsum in dem 370 Kilometer haltenden Panorama. Viel Lob wurde auch den Anlagen des Mythenweges, Hauses und Plateaus auf der Spitze, nicht weniger dem Clubwein gespendet. Landammann Scherrer, der gewesene Festpräsident in St. Gallen, begrüßte die Clubgenossen auf der weitschauenden Warte im Angesicht der Urschweiz und ihrer stolzen Berge und Seen. Es war ein köstlicher, nur zu kurzer Aufenthalt.“

Gibt es eidgenössischere Zinnen als die Mythen oberhalb von Schwyz? Gibt es einen helvetischeren Verein als den Schweizer Alpen-Club? Zwei Fragen, eine Antwort: nein. Welche Berge sind im Nationalratssaal in Bern seit 1902 im Fresko „Die Wiege der Eidgenossenschaft“ verewigt? Die Mythen natürlich. Welchem Verein gehörte die Mehrheit im Bundesrat von 1993 bis 1995 an? Dem SAC natürlich. Ruth Dreyfuss, Adolf Ogi, Otto Stich und Kaspar Villiger waren und sind Clubisten, um die einst gebräuchliche Bezeichnung zu verwenden. In Schwyz und Umgebung sowie zuoberst auf dem Grossen Mythen feierten also die Clubisten Verein, Land & Berge, anlässlich des Zentralfestes und der Abgeordnetenversammlung vom 7. bis zum 9. September 1895. Den Festbericht verfassten Festpräsident Ingenieur Bettschart und Aktuar Dr. Gyr für das „Jahrbuch des Schweizer Alpenclub“ von 1895.

Wer noch mehr von diesem Club erfahren möchte, muss noch ein wenig warten: 2013 feiert der SAC seinen 150. Geburtstag. Den gleich hohen Geburtstag kann im nächsten Jahr allerdings auch die Mythen-Gesellschaft begehen. Ihr erstes Ziel war es gewesen, einen Wanderweg auf den Grossen Mythen zu bauen, und schon am 17. September 1864 wurde der Mythenweg eröffnet. Ein Weg, den heute jährlich 30‘000 Wanderer unter die Füsse nehmen. Wer einmal dort oben war, kehrt immer wieder aufs „Matterhorn der Wanderer“ zurück.

Und ab sofort sowieso und erst recht. Wanderer und Nichtwanderer. Festbrüder und Asketen. SAC’ler und Vereinsmuffel. Gipfelstürmer und Bücherwürmer. Denn seit dieser Woche gibt es ein geradezu mystisches, eidgenössisch verlässliches, kunst- und stilvolles, hintergründiges und festlich illustriertes Buch. Emil Zopfi hat seine vierte Bergmonographie nach Tödi, Glärnisch und Churfirsten dem schwyzerischen Dreigestirn gewidmet (ja, drei Zinnen sind’s!). „Die Mythen – Im Herzen der Schweiz“. Ein starker Titel, nicht wahr? Genau so ist das Buch. Lesen, anschauen, geniessen: am besten draussen vor dem Gipfelhaus auf dem Grossen Mythen (1898 m), bei Kaffee und Nussgipfel.

Geschichte und Geschichten, Facts und Fotos (von Röbi Bösch), Mythos und Marke, Dolo-Mythen für Kletterer, Gipfelglück für Wanderer. All das und noch viel mehr findet man in Zopfis jüngstem Bergbuch. Auch die Toten, gerade sie leider. Ein steiler Grashang am Grossen Mythen heisst Totenplangg. Wie nahe Festfreude und Wehklage beieinander sind, mussten auch die Clubisten im Herbst 1895 erfahren. Nochmals ein Auszug aus dem „Jahrbuch des Schweizer Alpenclub“ von 1895, diesmal aus der Rubrik „Alpine Unglücksfälle 1895“, Abschnitt „B. Im Mittelgebirge“:

„5) 9. September. Großer Mythen. Herr Ingenieur O. Gelpke, der das Jahresfest des S.A.C. in Schwyz mitmachte, strauchelte beim Abstieg vom großen Mythen an einer Ecke des gut angelegten Zickzackweges, stürzte über Felsen hinunter und blieb auf einer unteren Kurve des Weges bewußtlos liegen. Infolge einer schweren Wunde am Hinterhaupt verschied er kurz nach dem Falle. Die Ursache des Straucheins ist nicht sicher ausgemittelt.“

Emil Zopfi: Die Mythen – Im Herzen der Schweiz, AS Verlag, Zürich 2012, Fr. 54.-
Die Buchvernissage findet zweimal statt:
Freitag, 19.Oktober 2012, um 19.30 Uhr im MythenForum Schwyz, Reichstrasse 12 in Schwyz.
Mittwoch, 24.Oktober 2012, um 19 Uhr im Theatersaal der Stiftschule Einsiedeln in Einsiedeln.

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