Die Schlüsselstelle

Klettern hat etwas kryptisches, und wie in der Kryptografie, so braucht es auch zum Überwinden gewisser Stellen einen Schlüssel. Ähnlich jenem, den Alan Turing für das Knacken des Codes der deutschen Wehrmacht entwickelte. Er war zwar kein Kletterer, sondern ein Marathonläufer.

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Heute sagt man vielleicht eher Crux, der Begriff Schlüsselstelle klingt ein bisschen verstaubt. Wie auch immer, ein Rezept, einen bestimmten Ablauf, einen Geheimtipp braucht jedenfalls die Überwindung mancher Stellen im Fels. Das Unmögliche wird plötzlich möglich. Es ist wie das Knacken eines kryptischen Codes, aus einem wirren Gespinst von Zeichen schält sich eine sinnvolle Botschaft. Aus Vorsprüngen, Kanten, Noppen und Auflegern ein möglicher Ablauf.
Vor Jahren fertigte ich Skizzen an von solchen Stellen, Hand links krallt sich an rauhe Felsrippen, Fuss auf abschüssigen Tritt links hoch, dann den Körper gespannt, die Rechte weit, weit gestreckt erreicht eine Kante. Und so weiter. Später fertigte ich eher Skizzen für Tangofiguren an, aber ist man am entscheidenden Punk der Figur oder der Crux, so hilft die Skizze in der Regel nicht weiter, sondern nur das entschlossene Weiterziehen. Zögern ist das Ende. Es führt zum Absturz oder zum Tritt auf den Fuss der Dame. Das Gedächtnis lässt im Alter ohnehin nach, also keine Skizzen mehr. Und die Kante ist weit, zu weit.
Wahrscheinlich sind wir geschrumpft, so einigen wir uns, als wir die Schlüsselstelle nicht mehr schafften. Es ist doch so: im Alter wird man kürzer, die Körperspannung lässt nach, die Bandscheiben werden dünner, die Sehnen kürzer. Und die Muskelkraft, na ja. Nützt nicht viel, wenn der Arzt sagt, man sei immer noch dreissig Prozent über dem Schnitt. Was heisst denn das? Was ist der Schnitt? Würde der Durchschnittsmensch diese Stelle überhaupt je schaffen? Und wir, wir haben sie doch hundert Mal geschafft an unserer Trainingswand, oder zwei- oder dreihundert Mal. Gezählt haben wir nicht. Es ging ja einst so leicht. Bis zum ersten Sturz. Zum zweiten. Und so weiter. Irgendwann kam uns dann in den Sinn, die Stelle doch noch etwas genauer anzuschauen. Es hat da doch noch andere Griffe, vielleicht hatte man sie damals sogar in der Skizze festgehalten. Vergessen, es ging auch ohne. Sie sind zwar klein, schmale Leisten für zwei oder drei Finger, aber genügend vielleicht für einen Dynamo zur Kante. Letzten Freitag war das, ich stieg mit einer Sauangst ein, schon der Beginn der Schlüsselstelle war eine Zitterpartie. Ruhig, ruhig. Greif noch mal ins Magnesiasäcklein, schüttle noch mal die Hände. Der Zangengriff, zum Einhängen des Hakens vor dem weiten Zug ging ganz gut. Und dann hatte ich die Kante in der Hand, bevor ich wusste wie. Die Stelle, fast so leicht wie einst. Ich bin geschrumpft und hab’s trotzdem geschafft. Nochmals. Und vielleicht auch die nächsten fünfzig Mal noch. Oder sagen wir, die nächsten fünf Mal. Oder wenigstens noch einmal.
(Foto Marco Volken)

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