Die Schweiz verkaufen

Ein Buch über die Wechselverhältnissen zwischen Tourismus, Literatur und Künsten in der Schweiz seit 1800. Dass dabei die Berge eine entscheidende Rolle spielen, ist so klar wie der blaue Himmel über Zermatt, wenn sich die Sturmwolken verzogen haben.

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„Vor wenigen Tagen hatte er die Ersteigung des Dent d’Hérens in Angriff genommen. Diese weiße, makellose Pyramide nächst dem Matterhorn lockte ihn als Vorspiel zu dem schwierigen Furioso. Aber der Berge wehrte sich bis zum äußersten: ein wütender Sturm verwandelte Whymper und die beiden Führer in Schneemänner; die an den Felskanten abgegriffene Haut fror am Stahl der Eispickel fest, nachdem die Fetzen der Handschuhe längst irgendwo hängen geblieben waren. Verständigung mit Wort und Schrei war ausgeschlossen, die letzte Flasche leer im Abgrund verschwunden. Aber weiter ging’s hinauf! Das wies der Führer auf eine kleine Steinpyramide, das Siegeszeichen des Menschen, der vor ihnen diesen Grat erklommen hatte. Sie waren vielleicht fünfzig Meter dem Gipfel. Whymper schlug den Pickel ein, zog das Seil an und zwang zum Halten. Dann gab er das Zeichen zur Umkehr. Der Berg gehörte bereits einem andern. Wie er da oben aussah, konnte er sich von diesem andern erzählen lassen. Für ihn war nichts mehr zu erobern. Kletterübungen ohne Schicksal lockten ihn nicht. Er stieg mit den fluchenden Führern durch den nutzlosen Frost wieder hinab.
Würde es mit dem Matterhorn ähnlich gehen?“

Eine packende, aufschlussreiche Szene aus „Der Kampf ums Matterhorn“, ein „Tatsachenroman“ von Carl Haensel, der 1929 erstmals erschien und mehrere Auflagen erlebte (zuletzt 2003), der im August 1952 auch als rororo-Taschenbuch Nr. 60 und 1963 in einer Kurzfassung in einem SJW-Heft veröffentlicht wurde. Ein Bestseller also – wie der Berg. Haensels Werk steht zusammen mit Theodor Wundts „Matterhorn. Ein Hochgebirgs-Roman“ im Zentrum der Untersuchung zur (Trivial)literatur des berühmtesten Berges der Schweiz. Katharine Weders germanistische Begleitung von Whymper & Co. bildet einer der 15 Aufsätze in einem Buch, das sich mit den Wechselverhältnissen zwischen Tourismus, Literatur und Künsten in der Schweiz seit 1800 beschäftigt. Dass dabei die Berge eine entscheidende Rolle spielen, ist so klar wie der blaue Himmel über Zermatt, wenn sich die Sturmwolken verzogen haben. Rigi, Jungfrau und Matterhorn woll(t)en bewundert, belagert, bestiegen werden. Und beschrieben.

Klaus Pezold befasst sich mit Johann Gottfried Ebels Beitrag zur literarischen und touristischen Erschliessung der Schweiz – Ebel verfasste mit seiner „Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen“ von 1893 einen der ersten und erfolgreichsten Reiseführer zu unserem Land. Eine seiner Nachfolgerinnen war Annemarie Schwarzenbach, der auch ein Kapitel gewidmet ist. Elsbeth Pulver porträtiert den Wanderer und Schriftsteller Josef Viktor Widmann, Corinna Jäger-Trees beleuchtet Heinrich Federers sanftes Tourismuskonzept. Andreas Solbach analysiert unter dem Titel „Prüfung und Erlösung. Der Berg als medicina mentis“ felskantenscharf die Schriften von Francesco Petrarca, Hans Morgenthaler und Ludwig Hohl. Dominik Müller liefert eine sehr fundierte Einführung zum Thema, die von Heidi über Hodler bis zur Skilehrerreklame von heute reicht.

Und dann sind da noch die halb und ganz vergessenen Erzählungen und Romane, die Rémy Charbon wiederentdeckt hat und welche die touristische Expansion zwischen 1800 und 1914 widerspiegeln. Eines dieser Werke trägt den Titel „Autochthonen und Touristen“. Erstere werden sicher auch geflucht haben, wenn letzterer die Ersteigung eines Gipfels trotz misslichster Bedingungen durchstierte und dann doch kurz vor dem Ziel zur Umkehr blies, nur weil schon ein anderer Tourist ganz oben war.

Rémy Charbon, Corinna Jäger-Trees, Dominik Müller (Hg.): Die Schweiz verkaufen. Wechselverhältnisse zwischen Tourismus, Literatur und Künsten seit 1800. Chronos Verlag, Zürich 2010; Reihe Schweizer Texte, Neue Folge, Band 32. Fr. 58.-

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