Die Wand

Eine grosse Felswand, ganz nah und ohne eine einzige Route, hoch über dem Walensee.

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Täglich steht sie mir vor Augen, die Wand, die Felswand gegenüber, spiegelt sich im See. Grau und gelbbraun, Kalk, dreihundert Meter hoch wohl und zwei Kilometer lang und senkrecht, gespickt mit gewaltigen Überhängen, so zieht sie sich vom Chapf gegen Osten, Ausläufer der Churfirstenkette. Ein Eldorado für Kletterer müsste das sein, grandiose Routen im warmen Winterfels über Pfeiler, durch Plattenschüsse oder dann der gefrorene Wasserfall, 590 Meter in drei Stufen, der höchste Europas scheints. Alles unbegangen, unbestiegen, Wege der Zukunft. Seit ich hier sitze, blicke ich hinüber und träume von kühnen Aufstiegen, von Erstbesteigungen und Abenteuern und weiss, sie gehören nicht in meine Zeit. Oft frage ich mich, warum sie noch niemand versucht hat, aber vielleicht hat sie ja schon jemand versucht, klammheimlich oder es gibt gar Routen, von denen niemand weiss. Je nach Licht zeichnen sich andere Möglichkeiten ab, mal hier, mal dort. Wie kommt man zum Einstieg? Steil die Wälder hoch, durch eine ruppige Rinne hinab, von Baum zu Baum oder Abseilen wie im Verdon? Und immer wieder denke ich bei solchen Betrachtungen an das wunderbare Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer:

Die Felswand

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Feindselig, wildzerrissen steigt die Felswand.
Das Auge schrickt zurück. Dann irrt es unstet
Daran herum. Bang sucht es, wo es hafte.
Dort! Über einem Abgrund schwebt ein Brücklein
Wie Spinnweb. Höher um die scharfe Kante
Sind Stapfen eingehaun, ein Wegesbruchstück!
Fast oben ragt ein Tor mit blauer Füllung:
Dort klimmt ein Wanderer zu Licht und Höhe!
Das Aug verbindet Stiege, Stapfen, Stufen.
Es sucht. Es hat den ganzen Pfad gefunden
Und gastlich, siehe, wird die steile Felswand.

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