Ich musste einmal wieder einen Tag hinaus. Nur wohin? Es hatte frisch und viel geschneit und ich hatte keine Begleitung, ausser einem Buch. Da mir die Lawinengefahr nicht geheuer war, wählte ich einen anderen Weg. Nicht auf die Berge hinauf, sondern dazwischen hinein.
Hinter Bad Ragaz öffnet sich im Berg ein tiefer Spalt. Er mag oft düster wirken, doch heute gab ihm der Schnee etwas Helles. Keine Spur war zu sehen, nur ein geschlossener Schlagbaum, ein Schild „gesperrt!“. Und dennoch nahm der breite Weg mich auf und mit hinein. Es wurde still und der Schnee rasch höher, der weich war wie eine Sommerwiese, indem er jeden Schritt federte und an den Beinen bis zum Knie hinauf reichte. Als die Schlucht sich einmal etwas weitete und zwischen Tamina und Weg Platz für eine Gruppe bewegungsloser Bäume liess, sass dort, den Kopf eingezogen, ein Bussard auf verschneitem Ast. Ich hielt nicht inne, schaute nicht hin, sagte nur, er brauche nicht aufzufliegen, lautlos, weil er es so vielleicht besser versteht. Da tat er es doch, strich ab in den Wald und war in der winterlichen Reglosigkeit verschwunden. Weil sich so gar nichts bewegte, sah ich später das kleine Flattern an der Felswand sofort. Ein Mauerläufer ging dort auf und ab, Silbern, rot und schwarz. Der Klettervogel! Sein Erscheinen, seinen Gruss zur Weihnachtszeit, nahm ich als Verheissung für das kommende Jahr.
Nach einer Ewigkeit des Stapfens, eine gute Stunde nachdem ich die Schlucht betreten hatte, war ich beim alten Bad Pfäfers. Das stattliche, glänzend renovierte Haus mit den roten Fenstern im weissen Putz und den Wappensteinen der Bischöfe, auch die angebaute Kapelle, waren stumm und tief verschneit. Keine Spuren führten von einer der Türen weg, oder zu einer anderen hin, nur meine lagen bald ringsum, wie suchend, zu wirren Schleifen geflochten im Schnee, und leiten einen später vielleicht fragenden Blick noch ein Stück weiter, bis zum Ende des Weges. Hier, wo die Wände so nahe zusammentreten, dass nichts als Wasser zwischen ihnen Platz findet, sass ich unter einem grossen Felsüberhang, an seine Rückwand gelehnt und las im mitgebrachten Buch. Es war still bis auf das Murmeln, nicht rauschen, der Tamina. Ein paar Schneeflocken, die einst hereingeweht waren, lagen auf den Steinen wie Staub und ich konnte sie wegpusten bevor ich mich setzte. Mir war kalt, doch ich fror nicht, las im Buch vom Roten Ritter, der durch einen Spalt im Berg zog, mitten hindurch, und an ein kaltes Haus kam, der, als er floh, ahnungslos auf eine Schlucht zu galoppierte und das Pferd, dass versuchte darüber zu setzen, verlor, weil es in den Abgrund stürzte, an dessen Zweigen er selbst sich hielt und wieder emporzog.
Auch mein Weg führte irgendwann die Schluchtwand hinauf, doch war er breit und zeichnete sich auch unter dem hohen Schnee noch ab. Treppenstufen leiteten an den Felsen entlang und ich brauchte die Hände nicht ein einziges Mal aus den Taschen zu nehmen. Im Hier und Jetzt gehen wir leichter durch Schluchten als die Ritter der Fabel. Wir setzen auch gelassen hinüber, in makellosem Schwung aus federleichtem Beton, unter dem ich das zweite trockene Plätzchen heute fand. Hier, unter der Taminabrücke, wehte aber der Wind herein und ich legte das Buch bald wieder weg. Mein kalter Störenfried trieb auch den Dampf zur Seite, der von der Tasse aufstieg, die ich mit beiden Händen vor den Lippen hielt. So fiel mein Blick über den heissen Tee hinweg auf eine, durch die Ingenieurskunst zur Symmetrie gewordene Landschaft. Bis wieder Vögel darin auftauchten, irgendwo weit draussen, man sah sie sofort, stets schwarz auf weissem Grund. Wie zufällig flog hier mal einer, mal dort eine kleine Schar, und brach so den Bann der Symmetrie. Nein, die Welt war nicht erstarrt.
Auch ich ging weiter, zurück nach Hause. Und als ich dort ankam, es früh und noch vor dem Abend dämmerte, da war ich nicht nur im Buch einige Seiten weiter gekommen, sondern auch im Leben einen Weg mehr gegangen.