Echo der Berge

Der Ruf der Berge hallt unüberhörbar. Durch Thriller, Geschichten- und Bilderbuch. Ohren auf!

«Nehmen Sie den Verband ab!»
Ihre Stimme klang scharf und schneidend … und plötzlich war mein Kopf voller Echos. Sie prallten von meinem Schädel ab, fremd und geheimnisvoll, als ob ich mir einbildete, im Nebel auf einem Gletscher jemanden schreien zu hören. Aber war es überhaupt Einbildung? Denn jetzt sah ich es auch: wild umherjagende Schneefetzen, hohe Mauern aus unnachgiebigem Eis und eine Höhle voller Dunkelheit, die sich zu meinen Füßen öffnete. Der Wind, der aus der Tiefe nach oben drang, war eisig kalt.
Und er brachte etwas mit.

Ein eher kurzes Zitat von Seite 225 aus dem 717seitigen Hochland-Thriller „Echo“ des Niederländers Thomas Olde Heuvelt. Darin geht es um die verunglückte Besteigung eines verdammten Gipfels in den Walliser Alpen und die verheerenden Folgen, erzählt auf versetzten Zeitebenen und aus verschiedenen Perspektiven, insbesondere des überlebenden Nick und seines Freundes Sam Avery, der aber (zum Glück) nicht mit am Berg war. Nick und sein Berggefährte Augustin erkletterten den geheimnisvollen Mont Maudit zwischen Val de Moiry und Val d’Hérens, nicht zu finden auf der Karte, aber mit verbotenem Zugang. Allen, die diesen Berg zu besteigen versuchten, brachte er Verderben, nicht nur den Alpinisten selbst, sondern auch den Leuten, die dann mit ihnen in Kontakt kamen. So auch der Ärztin, die Nick aufforderte, den Verband abzunehmen; hätte sie besser nicht gemacht… Der Patient hatte sich bei einem Sturz während des Abstiegs vom Schreckenshorn lebensgefährlich verletzt, und nun geht von ihm eine ganz ungewöhnliche Lebensgefahr aus, die zu allem Übel noch im winterlichen Dorf Grimentz am Ausgang des Val de Moiry ins Val d’Anniviers für Unruhe sorgt. Kurz: allenthalben und allenorts ein Trauma, ja bis nach Amsterdam. Deshalb mein Ratschlag: beim Schild „Accès interdit“ nicht weitergehen, überhaupt keine verwunschenen Gipfel anpeilen, Grimentz nur in einem sonnigen Sommer besuchen. Und immer gut überlegen, wie man in die Berge ruft. Das Echo kann tödlich sein. Bis man allerdings auf Seite 717 alle Passagen überwunden hat, die spannenden, zähen und alpintechnisch teils auch heiklen (wenigstens in der Übersetzung), hat sich der Widerhall schon etwas verflüchtigt.

Zur Abwechslung und zur Ergänzung empfehlen sich zwei andere Bücher, darin das Echo hörbar ist. Da ist zum einen das gut hundertseitige Buch der seit 1989 in der Schweiz lebenden Russin Maria Thorgevskaja mit Geschichten aus dem Klöntal im Glarnerland: „Wo Berge das Sagen haben.“ Darin erfahren wir, wie ein Berg uns Menschen sieht, was er von uns hält, die wir unter allerlei Vorwand und mit allerlei Gerät an ihm herumkraxeln. Wie er einmal zwei Engländerinnen rettete, wie er fast seinen See verlor, wie er Malern Modell gestanden ist und heute zum Hintergrund bei Selfies verkleinert wurde. Und ganz am Schluss des rucksacktauglichen Buches tauchen ein paar philosophische Gedanken zum Echo auf: „Ausser mir lebte nur das Echo schon seit immer und ewig hier. Es war sehr einsam. Von Natur her was es schrecklich geschwätzig, bereit jedes Gespräch aufzunehmen und weiterzuspinnen. Aber es gab da absolut niemanden, mit dem man hätte schwatzen können.“

Oder doch? Echo ist ein schüchternes, kleines Wesen mit übergrossen Ohren, im Kinderbuch „Das kleine Echo“ von Al Rodin. Immer versteckt es sich in den dunklen Winkeln einer Höhle. Gern würde es wie die anderen Geschöpfe spielen und lachen. Doch Echo ahmt immer nur die Laute der Anderen nach. Bis eines Tages der Junge Max auftaucht. Als er bei der Schatzsuche in Gefahr gerät, nimmt Echo allen Mut zusammen und spricht das erste eigene Wort: eine Aufforderung, die in der Höhle widerhallt, hallt, hallt…

Thomas Olde Heuvelt: Echo. Heyne Verlag, München 2021, € 17,00.

Maria Thorgevskaja: Wo Berge das Sagen haben. Klöntaler Geschichten. Aus dem Russischen von Dan Wiener. Baeschlin Verlag, Glarus 2021, Fr. 29.80.

Al Rodin: Das kleine Echo. Aus dem Englischen von Thomas Bodmer. NordSüd Verlag, Zürich 2022, Fr. 19.90.

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