Edelweiss

Wer kennt nicht das Lied vom Blüemel, das der junge Bursch seiner Geliebten aus steiler Felsenwand holt und dabei unweigerlich zu Tode stürzt. Ob unser Rezensenz verliebt ist, wissen wir nicht; aus Sicherheitsgründen hat er nicht am Berg, sondern in Bücherbergen nach der «Reine des Fleurs» geforscht. Hier seine Funde.

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Sie standen nun unmittelbar unter den Höckern. Es waren zwei felsige, von kurzen Grasbüscheln durchsetzte Kuppen.
„Da hast du einen Schatz!“ wies Urs hin. „Für unser Gebiet wirklich ein Schatz.“
„Edelweiß?“
„Ja. Es kommt im Bereich der Schrattenfluh nur hier vor. Soll ich dir einige Blüten holen?“
Die weißsilbernen Sterne nickten nicht sehr häufig da und dort aus den Ritzen und Gesimsen.
„Ich will nur ein einziges. Zur Erinnerung. Und das hole ich mir selber.“
Er wußte, wie sicher sie im Fels war, setzte sich auf den weichen Rasen und entzündete seine Pfeife. Claire stieg, nach einer besonders schönen Blüte suchend, nach den Platten hinüber, querte über ein Gesimse an die Kante hinaus. Es war alles leichter Fels, der keine alpine Kunstfertigkeit beanspruchte. Urs sah ihr gelassen zu und blickte dann gegen Süden, wo die Kette des Brienzer Grates schon von schwammigen, hellgrauen Wolken verdeckt war. Das war nicht die harte, schwarz Wand eines nahenden Hochgewitters, so wie damals an den Heftitürmen, sondern das langsame Einschleiern unter dem Druck des Föhnes. Es würde Landregen geben. Gut, daß man das Heu schon in der Scheune hatte!
„Du – Urs!“
„Ja! Was ist?“
„Komm doch hierher!” Die Stimme klang erregt.

Was die Genferin Claire am versteckten Platz in der Schrattenflue, diesem schroffen Kalkriff zwischen Emmental und Entlebuch, wohl gefunden hat? Ein besonders schönes Edelweiss? Oder gar einen anderen Schatz? Verrate ich nicht! Wer es wissen möchte, leiht sich in der Nationalbibliothek oder bei mir „Schrattenfluh“ von Gustav Renker aus; der „Roman aus den Bergen“ erschien 1940 im Friedrich-Reinhardt-Verlag in Basel. Wie viele Bücher von Renker (1889-1967), Schriftsteller und Journalist; jahrzehntelang lebte er in Langnau im Emmental, das Renkerhaus befindet sich auf dem Dorfbärg. „Schrattenfluh“ ist also buchstäblich ein Heimatroman; „im Mittelpunkt steht Urs, der starke und wagemutige Käserssohn, der den bewährten Landgasthof seiner Großmutter übernehmen soll“ (Klappentext). Und der eine Frau finden soll – Urs schwankt zwischen der edelweisssuchenden Claire und der „schlichten, bodenständigen Bernerin Setti“. Wer von diesen beiden besser zum Landgasthof passt, ist unschwer zu erraten. Wie der Gasthof heisst, auch nicht: Es ist das Kemmeribodenbad.

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Von dort stiegen wir am letzten Freitag zur Schrattenflue hinauf, zu ihrem Südgipfel, dem Schibegütsch. Ebenfalls auf der Suche nach Schätzen, allerdings nicht floralen, sondern militärischen. Im Schibegütsch und in den vorgelagerten Felsen des Achs verstecken sich Infanteriewerke aus dem Zweiten Weltkrieg, mit horizontalen und vertikalen Stollen, mit Kasematten und Maschinengewehrständen. Eine abenteuerliche Sache. Insbesondere der Zugang zur Adlerhorststellung im Achs verlangt Wagemut und alpine Kunstfertigkeiten, wie sie einst erfolgreiche Edelweisspflücker besassen. Wer diese Gaben nicht hatte oder hat, riskiert(e) das Leben.

Das war früher leider zu oft der Fall. Viele Verliebte wollten ihrem Schatz ein selbst gepflücktes Leontopodium alpinum als Liebesbeweis schenken – und kamen nicht mehr dazu. Im neuen, prächtigen Bildband „Edelweiss – reine des fleurs“ ist eine Postkarte von 1902 abgebildet, auf der ein junger Mann auf grasigem Gesimse balanciert, die eine Hand in einen Strauch gekrallt, die andere nach der gesuchten Blume ausgestreckt. Oben links ist in einer Vignette ein rosiges Maderl abgebildet, und der Text unten auf der Karte lässt Raum für die Angebetete: „A Sträusserl für mei…“

Edelweiss, mon amour! Wer sich dafür interessiert, sollte zu diesem Buch greifen. Botanische, mythische, symbolische, soziologische, modische, touristische, wirtschaftliche Aspekte werden mit Text und Bild abgehandelt. Und man erfährt auch, wo das Pflänzlein zu finden ist. Zum Beispiel im Jardin botanique de l’Université de Zurich. Pflücken darf man es dort aber nicht. Aber wo dann?

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Edelweiss – die Königin der Blumen.  Natürlich widmet ihm auch der Belgier Jean-Claude Legros ein paar Zeilen. Schliesslich ist er Gärtner im Hauptberuf, daneben Schriftsteller und Bergsteiger. Von ihm ist das hübsche Taschenbuch „La Montagne à mots choisis“ erschienen, worin er mehr oder weniger objektive bzw. subjektive Erklärungen zu Stichworten von A bis Z abgibt, von Acclimatation über Edelweiss und Eiger, Opinel und Or blanc bis Zone de mort. Unter L ist von Lapiaz die Rede: „rainures superficielles, de formes variées, creusées par les eaux en terrain calcaire.“ Wer Karstformen sehen und hautnah spüren möchte, sollte die Karrenfelder auf der Ostabdachung der Schrattenflue besuchen. Noch ist es möglich, noch verdeckt kein Schnee all die Schründe, in denen vielleicht Schätze zu finden sind. Wer nur davon lesen möchte, nimmt „Schrattenfluh“ zur Hand.

Gustav Renker: Schrattenfluh. Roman aus den Bergen. Friedrich Reinhard Verlag, Basel 1940.
Charly et Sabine Rey, José Vouillamoz, Catherine Baroffio, Didier Roguet: Edelweiss – reine des fleurs. Editions du Belvédère, Fleurier 2011, Fr. 59.-
Charly Rey, Sabine Rey, José Vouillamoz, Catherine Baroffio, Didier Roguet:
Edelweiss – Botanik, Mythos und Kultur einer geheimnisvollen Alpenpflanze. AT Verlag, Fr. 39.90.
Jean-Claube Legros: La Montagne à mots choisis. Éditions Glénat, Grenoble 2011, Fr. 26.50

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