Eggenmandli versus Aktenberg

Mein Wissensdurst hinderte mich daran, Wetter und Berge vor dem Fenster zu sehen. Ich hielt meinen Blick auf Bücher gesenkt und tat so, als würde das Wetter draussen nicht stattfinden. Lange, viel zu lange mussten die Berge auf mich warten. © Annette Frommherz Eggenmandli 03 2015 (6)

Eggenmandli 03 2015 (19)
Eggenmandli 03 2015 (35)

Einen halben Winter lang versuchte ich den roten Faden durch Paragraphen und Artikel zu finden, und das Zivilgesetzbuch lag schwer in meinen Händen. Der Berg vor mir bestand aus Lektüre über ein breites Thema, das es zu fokussieren galt. Kein anderer als der Liebste verstand es, mich aus Theorie und Taumel zu führen und mich auf die Skier zu stellen.
Der Südwind fegt hoch über uns, als wir im Urnerland in die Seilbahn nach Brüsti steigen. Während die Bauern im Tal bereits mit Wonne ihren Mist zetteln, heisst uns hier oben der Winter willkommen. Wir müssen die Felle gut halten, damit der Wind sie nicht wegfegt. Eggenmandli? Noch nie gehört. Unser Ziel vernimmt sich in der sächlichen und verniedlichten Form so putzig, als wäre es gar kein richtiger Berg, sondern ein Urner Maskottchen aus selbstgestrickter Wolle. Tatsächlich steht er rundum von höheren Gipfeln beschützt. Brunnistock. Wissigstock. Wissberg. Schlossberg. Sie ermöglichen es uns später, in windgeschützter Spur an Höhe zu gewinnen. Die Sonne tut dem aktengebleichten Gesicht gut, die kalte Luft reinigt die modernden Gedanken.
Wir queren den heiklen Südost-Hang des Brunnistocks, wo kürzlich zwei Nassschneelawinen sich gelöst haben. In den Lawinenkegeln liegen markant die harten Brocken von gepresstem Schnee. Doch fast schweizweit steht heute die Gefahrenstufe auf „gering“, und wir sind beizeiten unterwegs. Den steileren Aufstieg auf den Surenenpass nehmen wir im hellen Vormittagslicht. Auf der Kuppe posieren die Schneewechten wie wuchtige Wogen des Meeres; gleich müssten sie uns wegspülen.
So windstill, wie uns der Gipfel empfängt, hätten wir es uns nicht träumen lassen. Brot und Käse und endlich auch ein Gipfelkuss lassen mich die Theorien der letzten Monate gänzlich vergessen. Die Bedingungen sind so sicher, dass wir über den abschüssigen Nordosthang abfahren können, wo ein kurzer, über vierzig Grad steiler Engpass meine Fahrkünste provoziert. Der Schnee ist pulvrig und herrlich, und mein Liebster schmiegt sich in den Hang, als hätte er den ganzen Winter nichts anderes getan. Unten wird es flacher, bald müssen wir uns mit den Stöcken durch den Talboden von Waldnacht stochern. Vor uns liegt nochmals ein kurzer Aufstieg zur Bahn, die uns wieder hinunter ins Tal bringen wird, wo die Krokusse längst ihre Häupter gereckt und die Schneeglöckchen sich flächendeckend verbreitet haben. Ein Blick hinauf zum Eggenmandli. Ein schöner Berg! Ein herrlicher Tag! Wie nur konnte ich mich so lange hinter Büchern verstecken. Es darf nicht sein, dass mir die Berge abhandenkommen. Noch während ich schwöre, ist es mit meinem Handschlag besiegelt.

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