Der Eiger ist in der Alpinen Literatur so etwas wie Sex in der Presse: Eiger sells! Das 75-Jahr-Jubiläum der Erstbegehung der Nordwand bringt neuen Stoff zwischen Buchdeckel. Unter anderm das Coming-Out des Künstlers Martial Leiter als Eigerfan, für den die düstere Wand als «Zeichen für die Schweiz» steht. Auch Neo-Familienvater Stefan Siegrist meldet sich wieder in grossem Format, und das sehnsüchtig erwartete Eiger-Lexikon ist endlich da – leider nicht ganz fehlerfrei, wie unser Rezensent festgestellt hat.
En 1938, une équipe autrichienne et une équipe allemande font la course de la face nord. D’abord chacune sa voie, puis quand le temps change, les quatre alpinistes font cause commune contre la tempête, profitant de l’expérience des drames passées. Après trois nuits de bivouac glaciales, ils finissent épuisés, mais au sommet. La Gazette de Lausanne écrit: «Souhaitons maintenant que la fièvre de l’Eiger s’apaise puisque la timbale est décrochée et que la course à la mort fasse place à l’alpinisme raisonné.»
Die Hoffnung der „Gazette de Lausanne“, mit der ersten Durchsteigung der Eigernordwand vom 21. bzw. 22. bis zum 24. Juli 1938 durch die Österreicher Heinrich Harrer und Fritz Kasparek sowie die Deutschen Anderl Heckmair und Wiggerl Vörg, würde sich das Eigerfieber senken, weil nun der Vogel abgeschossen, die Sache also erledigt sei, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Auch in den letzten 75 Jahren hat die Wand der Wände regelmässig für Schlagzeilen gesorgt. Mit Triumphen und Tragödien, mit Felsabbrüchen und Filmen, mit Büchern und Bildern.
Einer, den das Eigerfieber bereits mit fünf Jahren gepackt hat, ist der Karikaturist und Künstler Martial Leiter aus Lausanne. Am Radio zuhause in der guten Stube, fast zuoberst im Val de Travers im kalten Neuenburger Jura, hörte er vom Drama in der Eigernordwand, von der geglückten Rettung Cortis und der verunglückten Longhis. August 1957, und der kleine Martial verfolgt das Geschehen, bis nur noch die letzten Worte übrig bleiben: Fam, frecc – Hunger, kalt. Mit 14 Jahren stand er zum ersten Mal vor der Wand, ganz frisch noch die Erinnerung an den Todessturz von John Harlin. Mit dem Fernrohr suchte Leiter nach den Kreuzen in der Wand, weil er dachte, sie seien auch dort und nicht nur in den Fotos eingezeichnet.
Voilà: dort die Wand, hier das Papier, und dazwischen Geschichten, Vorstellungen. Der Eiger hat Martial Leiter nie mehr losgelassen. „J’ai tellement scruté cette paroi qu’elle m’est aussi familière qu’un visage.“ Im Geheimen hat Leiter daran gearbeitet, hat ihn zuweilen – mehr allerdings das Matterhorn – als Zeichen für die Schweiz gebraucht, in seinen Karikaturen, die ihn berühmt gemacht haben. Seit dem Jahr 2000 hat er immer wieder auf Ausstellungen seine Gemälde und Zeichnungen von Bergen ausgestellt, mit dem Eiger als Mittel- und Angelpunkt. Und nun bringt die klassisch schön gemachte Publikation „Le Cahier dessiné“, die zweimal jährlich in Paris erscheint, aus aktuellem Anlass einen Beitrag des Genfer Schriftstellers Daniel de Roulet über Martial Leiter und seine Lieblingswand. Fazit: „Désormais ceux qui scruteront la face nord de l’Eiger pourront passer les jumelles à leurs enfants. La nature a copié l’art: cette tache noire prise dans l’encre, cette masse charbonneuse juste sous l’«Araignée», ce n’est plus l’Eiger, c’est du Leiter.“
Die Spinne, dieses ausgefranste und zunehmend ausgeaperte Eisfeld hoch oben in der Nordwand! Von dort wären die Erstdurchsteiger am 23. Juli in einer Lawine fast runtergespült worden. Aber für einmal – und zum ersten Mal – kamen die Kletterer ganz durch, und einer von ihnen veröffentlichte 20 Jahre später den Bestseller „Die Weisse Spinne“. Die Route der Erstdurchsteiger ist aber zu Recht und zum Glück nach dem Seilschaftsersten benannt, nach Anderl Heckmair.
Einer, der diese Route wie seine Hosentasche kennt, der 1999 einer der vier Alpinisten der TV-Sendung „Eiger-Nordwand live“ war und 2002 für ein Buchprojekt in Heckmair‘schen Ausrüstung durch die Wand kletterte, ist Stephan Siegrist. Aber natürlich kennt er nicht nur die Heckmair, sondern noch viele andere Eigerrouten, wie beispielweise „The Young Spider“, die er 2001 mit Ueli Steck eröffnete. Und selbstverständlich hat „sein“ Hausberg auch im neuen, grandios gestalteten Bildband seinen grossen Auftritt: 18 der 144 Seiten von „Unterwegs zwischen Himmel und Erde“ zeigen den Eiger. In seiner vertikalen Arena ist man schliesslich genau zwischen diesen Polen unterwegs, begleitet vom Kuhgebimmel auf den grünen Matten am Wandfuss. Als Element hat das Gras in diesem Bildband seinen Platz als Symbol für die Erde dem Fels abgeben müssen – irgendwie ja verständlich in einem Buch, in dem es vor allem ums Klettern geht. Aber nicht nur. Siegrist springt auch mit dem Fallschirm von Felsen in die Tiefe, so vom berühmten Pilz am Rande der Eigernordwand. Und der unermüdliche Berner Oberländer Abenteurer balanciert gerne auf einer High- oder Slackline, am liebsten zuoberst auf hohen Gipfeln, wie auf dem Matterhorn oder jüngst auf der Dufourspitze.
Seinen Auftritt hat Stephan Siegrist ebenfalls im neuen „Eiger-Lexikon“ mit über 600 Stichwörtern, verfasst von Uli Auffermann. Leider haben sie darin etwas gar viele Fehler eingeschlichen, wie eine erste Durchsicht zeigt. Stichwort Fritz Steuri: Das Bild zeigt Hermann Steuri. Hans Steiner: Der Fotograf beim Corti-Drama von 1957 war Albert Winkler, nicht Steiner. Karl Mehringer: Das Bild zeigt seinen Seilgefährten Max Sedlmayr. Roland Travellini: heisst richtig Trivellini. „Vier Liter Cognac“: Die Russen-Direttissima fand im Winter, nicht im Sommer statt. Tsuneaki Watabe: starb 1965, nicht 1964. Hans Haidegger: fehlt. Aber hier ist der Eigerheld von 1937 zu finden, in einem Porträt von Emil Zopfi: www.nzz.ch/lebensart/reisen-freizeit/der-eiger-war-sein-heiligtum-1.17485648. Am Schluss zitiert Zopfi Haideggers Tochter Eva-Maria: „Der Eiger war sein Heiligtum“.
Daniel de Roulet: Martial Leiter et le mystère de la face nord de l’Eiger, in: Le Cahier dessiné (Paris), N° 8, avril 2013, € 30.-, www.lescahiersdessines.fr. Vor dem Beitrag über Leiter ist einer über Samivel abgedruckt, diesen zugleich so poetischen wie bissigen Bergmaler.
Stephan Siegrist: Unterwegs zwischen Himmel und Erde. Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2013, Fr. 59.90. Auch in Englisch erhältlich: Beyond the Element.
Uli Auffermann: Das grosse Eiger-Lexikon. Die Eiger-Nordwand von A – Z mit über 600 Stichwörtern. Schall-Verlag, Alland 2013, Fr. 42.90.
Anderl Heckmair, Rainer Rettner, Daniel Anker: Eiger, Eiger & Eiger. 75 Jahre Eigernordwand. Limitierte Sonderauflage, 3 Bücher in Schuber, 912 Seiten, 684 Abbildungen. AS Verlag, Zürich 2013, Fr. 98.-
Hinweise:
Schweiz aktuell von heute Montag, 8.7.13: www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/die-nordwand-am-eiger-ist-auch-eine-mordwand.
In Grindelwald: 11./12. Juli: Feier 75 Jahre Erstdurchstieg Eigernordwand; 21. Juli 2012 um 20 Uhr in der Pfarrschyr bei der Kirche: öffentliche Talkshow mit Gertrud Heckmair, Ehefrau des 2005 verstorbenen Anderl Heckmair, mit Christine Haberer, Nichte des 1936 in der Eigernordwand ums Leben gekommenen Anderl Hinterstoisser, sowie mit Rainer Rettner, dem besten Kenner der Eiger-Geschichte. www.grindelwald.ch; www.eigernorthface.ch mit neuer Chronik zum Runterladen.