Eine lädierte Hand und ein bisschen Philosophie und Sprachforschung rund um Griffe und Begriffe.
Dieser Tage habe ichs wieder mal versucht: Klettern mit kürzlich operierter Hand. Mein Handchirurg, ein Spitzenkletterer, fand das zwar im Nachhinein nicht so toll. Karpaltunnelsyndrom, diesmal links. Am Morgen erwache ich, die Hand schmerzt scheusslich und ist leicht geschwollen, doch das Wetter ist prächtig. Das heisst, der Wetterbericht war prächtig. Über die Galerie ziehen dunkle Wolken hinweg, es ist kühl. Nein, eigentlich kalt. «Ich sichere dich», sagt Christa, «aber ich klettere nicht.»
Ja gut, also los. Bewegung sei ja immer gut, heisst es, ich kann sogar beinahe wieder eine Faust machen. Also rechts. Links gehts ja auch mehr oder weniger, wenn die Griffe gross genug sind. Die Hand darf allerdings nicht nach innen knicken, hat mein Arzt gesagt.
So versuche ich halt mal was Einfaches, Altbekanntes. Nur ist da jene Stelle, wo ausgerechnet links eine abgespeckte Kante zu fixieren ist und rechts weit gestreckt der Haken zu hängen. Kleine, kleine Tritte und steil. Gerade über einem Band, da möchte man ja nicht wegkippen. Und dann ertastet meine rechte gute Hand einen prächtigen, scharfkantigen Griff. Ein Griffchen, das mir in den unendlich vielen Begehungen dieser Aufwärm- oder Auspowerroute noch nie in die Finger gekommen ist. Zeige und Mittelfinger passen hinein. Ein Wunder, meine Rettung.
In solchen Augenblicken kommt man doch gern ins Philosophieren, natürlich nicht im realen Augenblick, sondern jetzt, wo ich mental oder virtuell schreibend wieder dort oben bin und den Haken einhänge und dann weiterziehe. Die Welt ist kompex, du kannst einen Weg noch so viele Male gehen, nie ist er derselbe. Ich kenne alle Griffe dieser Route, ich kann sie im Schlaf nachvollziehen, ich mache das sogar, um einzuschlafen. Ich meditiere über solchen Routen, und dann ist da in der Wirklichkeit unvermittelt und unverhofft etwas Neues: ein Griff. War er eigentlich schon immer da? Oder ist da etwas ausgebrochen und er ist kürzlich entstanden? Kommt ja auch vor, die Routen ändern sich, keine Felswand ist fest, kein Berg ist fest, alles fliesst.
Na gut, jetzt ist meine Philosophie wieder bei den Gemeinplätzen angekommen. Bleiben wir beim Griff. Als ich in England kletterte, lernte ich, dass ein Griff «hold» heisst und ein Tritt «foothold». Ich finde das sehr schön, es hat mit Halt zu tun, da gibt mir etwas Halt im Haltlosen. Das klingt so bescheiden und respektvoll, nicht wie das besitzergreifende deutsche Wort «Griff». Und dann erst «Tritt»! Um Himmelswillen, da darf man ja gar nicht drüber nachdenken, was das bedeuten könnte. Auch ist so ein böses, politisch hoch belastetes Wort. Es lässt an bestimmte Menschen denken, die Tritte austeilen. Eigentlich sollten wir Kletterer dieses Wort gar nicht benützen. Aber wir haben nun einfach kein anderes zur Verfügung, mit dem sich beschreiben lässt, wie wir uns in einer Felswand bewegen. Mit Griffen und Tritten halt.
In meiner Jugendzeit dienten übrigens auch die Haken als Griff und Tritt, es gab den Begriff (schon wieder Griff!) rotpunkt noch nicht. Die neue Kletterethik war für mich dann eine eigentliche Offenbarung: man begann den Fels in seinen Mikrostrukturen zu studieren, zu lesen, Routen wurden zu Partituren, das Klettern zu Musik. Fast tänzerisch begann man sich am Fels zu bewegen (also zumindest versuchte man das). Klettern wurde jedenfalls nicht nur als ein Problem des Höhersteigens begriffen, als Kampf oder Krampf, sondern auch als eine Art von Ästhetik. Man entdeckte Möglichkeiten, die zuvor unmöglich schienen.
So habe ich nun nach Jahren diesen kleinen freundlichen Zweifingergriff entdeckt, auf einer altbekannten Route. Zufall, Glücksfall. Nur der Wetterbericht hatte versagt an diesem Tag. Wir froren und zogen ab.