Einsam unterwegs auf starkem Fels

Auf den Bildern des Alpinführers sieht es etwas unbeachtet, gar unberührt und einsam aus: das Diechterhorn im Berner Oberland. Wer es erklimmt, dem stockt der Atem nicht nur ob der Ausgesetztheit, sondern auch ob der fantastischen Rundsicht auf unzählige Gipfel. © Annette Frommherz

img_98801


Es pendelt in mir zwischen Vorfreude und Unsicherheit. Vorfreude auf die Zweisamkeit im sommerlichen Schneefeld. Unsicherheit, was mich da oben erwartet. Der Alpinführer schreibt von einem «hundert Meter langen Blockgrat zum Gipfel». Was mir fehlt, sind die Angaben über die Ausgesetztheit. Aber Alpinführer gehen davon aus, dass Bergsteiger grundsätzlich schwindelfrei sind. Ich übe mich in Gelassenheit.

Mit der steilsten Standseilbahn der Welt sind wir tags zuvor vom Handeck zum Gelmersee befördert worden und von da zur Gelmerhütte aufgestiegen. Abends haben wir den Hüttenwart nach dem morgigen Wetter gefragt. Hüttenwarte sind ja neben Insekten und Muothatalern die zuverlässigsten Wetterdeuter. Bedächtig hat Walter Schläppi in unsere fragenden Gesichter geschaut und gesagt: «Morn am füfi gömer eis go gugge, dänn gsehmer, was für Wätter ischt.» Präziser kann auch Meteo Schweiz nicht vorhersagen.
Walter wartet hier oben schon den zweiunddreissigsten Sommer. Vor 84 Jahren eingeweiht, wurde die Gelmerhütte im Laufe der Zeit erweitert und modernisiert. Nachdem 1935 das alte Bergheu durch Matratzen ersetzt wurde, erregte dieser Komfort die Gemüter des Central-Comitées. Die Zeiten haben sich geändert. Heute bietet die Hütte 57 Schlafplätze, alle mit Matratzen, auf die sich die Bergsteiger ganz selbstverständlich legen. Doch sonst sind die Annehmlichkeiten herausragend: sogar über eine Dusche und eine Abwaschmaschine verfügt die Hütte, und die Stromversorgung kommt vom eigenen Kraftwerk. Doch damit wären wir wieder bei der allgemeinen Diskussion, wie viel Komfort eine Berghütte bieten soll.

Der Aufenthaltsraum ist gemütlich, der Hagenbuttentee als Willkommensgruss heiss und fruchtig. Während sich die Kletterfreaks am Nebentisch nach tagelangem Warten nach gutem Wetter sehnen und fast schon verzweifelt über dem Schachbrett brüten, lasse ich meinen Blick über die Hüttenbibliothek schweifen. Wo sich Bergbibel und Lausters Werk «Wege zur Gelassenheit» die Hand reichen, verweilt auch Commissario Brunettis neunter Fall geduldig neben dem Bildband der REGA. Ich nippe in mich lächelnd am frischen Gletscherwasser mit Kohlensäure. Da lässt sich der Hüttenwart nicht lumpen.

Das Diechterhorn (3389 m.ü.M.) haben wir im Visier, weil uns keine Karawanen von Seilschaften erwarten werden, sondern eine Gegend, wo sich die Natur in ihrer Unberührtheit voll entfalten darf. Wem ich auch später vom Diechterhorn erzählen werde: die wenigsten kennen es. Kein Name wie Clariden oder Wildstrubel oder Wetterhorn, von denen auch Bergfremde schon gehört haben. Ich persönlich hätte es lieber Dichterhorn getauft; zu Ehren hätte ich auf dem Gipfel ein romantisches Gedicht geschrieben. So aber liess ich es bleiben.

Als leicht eingestuft gilt die Hochtour aufs Diechterhorn; mit 3 bis 4 Stunden Aufstieg und 2 Stunden Abstieg und «gegen den Gipfel mit leichter Kletterei», wie ich mich oben schwach erinnern werde. Denn als wir, Gletscher, Diechterlimi und Schneefeld bereits hinter uns gelassen, zum eigentlichen Gipfelanstieg kommen, verschlägt es mir den Atem. Auch das kurze Seil noch fester in die Hand zu nehmen, verspricht mir nicht die Sicherheit, die ich bräuchte. Der schmale Gratübergang zu den Felsblöcken ist zugegeben nur ein paar Meter weit, aber ich darf nicht lange überlegen, sonst – ich weiss es – lasse ich es bleiben. Nachher wird mir erst bewusst, dass ich den Weg auch wieder zurück muss. Wo andere nun mit Leichtigkeit die Felsblöcke hochklettern würden, klammere ich mich daran, als könnte mich ein Magnet in die Tiefe ziehen. Meinem Partner bleibt nichts anderes übrig, als vorzuklettern und mich Meter für Meter zum Gipfel zu sichern, indem er Bandschlingen um die Felsblöcke legt.

Auf dem Gipfel kann ich die Aussicht erst nicht geniessen – zu kurz ist mein Atem und das Adrenalin noch in den Adern. Dann traue ich mich doch, den Blick zu weiten und meine Sinne weiden zu lassen. Steile Gipfel mit weissen Häubchen verzaubern den Weitblick im Sonnenlicht, in der Ferne lässt sich sogar der leicht geknickte Zipfel des Matterhorns blicken; des Dichterhorns berühmter Kollege.
Mein Atem wird regelmässiger, Ruhe ist nun in mir und um ums. Wir sitzen schweigend auf kaltem Fels und lassen zu, was uns bewegt. Ich wage kaum, meine Gefühle in Worte zu fassen. Mir ist, als besuchte mich die Unendlichkeit. Als bewegte sich die Welt nicht. Als würde sich die Zeit auf leisen Sohlen davonschleichen. Hier oben ist das Ende der Welt erreicht, gib ich mir zu glauben. Ich wähne mich dem Himmel näher als der Erde.

img_9864

Doch, ich bin auch wieder hinunter gekommen. Ohne Rega, dafür mit Hilfe meines geduldigen Partners. Eines aber weiss ich mit Sicherheit: Das Buch «Wege zur Gelassenheit» ist geschrieben worden für Menschen wie mich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert