Eiskalt und sonnenheiss

Zwei Führer und ein Lesebuch für Leute, denen schwitzen nichts ausmacht, vor Angst, vor Anstrengung und/oder vor Hitze.

«Mittwoch, 24. Mai 1922
Mit Hans Bürgi vom AACB per Velo nachmittags nach Wattenwil. Bei glühender Hitze Aufstieg durch den Gürbengraben – Kuhberg – Nünenenhütte (verschlossen) – u[ntere] Gantrischhütte 1480 [m]
Donnerstag, 25. Mai (Auffahrt)
u. Gantrischhütte ab 5h. Aufstieg auf die vom N-Grat herabkommende Rippe, jenseits hinunter und über die Nordwand auf d. Gantrisch 2177. Herrliches Frühsommerwetter. Gipfelrast 8h-9h. Abstieg zum Leiternpass + Aufstieg auf Nünenen direkt über allen Westgrat (mit Ausnahme einer Wandtraverse auf brüchigem Gestein nach links). Gipfel 12½ – 1½ (allein). Abstieg über Ostgrat zum Känzeli + Rückkehr zum Westgrat, wo die Rucksäcke deponiert sind. Abstieg zur Nünenenhütte – Wattenwil. Per Rad nach Bern.»

Ausschnitt aus dem zweiten Tourenbuch (ab 1920) von Willy Richardet (1902–1925), forscher Berner (Ski)alpinist und Zahnarzt, Erstdurchsteiger der Nordwand des Blüemlisalphorns, Skierstbesteiger des Eigers, Mitglied des SAC Bern und des Akademischen Alpen-Clubs Bern, Mitbegründer des Schweizerischen Akademischen Skiclubs 1924, am 11. August 1925 von einem Stein erschlagen an der Aiguille Blanche de Peuterey. Richardet hätte seine Freude an einem neuen Führer, der vier Routen durch die Nordwand des Gantrisch enthält, plus neun kürzere Routen an einem schattigen Pfeiler, der vom Gäntu-Nordgrat herabkommt. An der Nünenen ist ebenfalls eine Route eingezeichnet, sowie an der Gemsflue und am Ochsen (der allerdings seinen Namen zu Osche gewechselt hat…). Tant pis! Wir packen trotzdem unsere Steigeisen und Ankerpickel ein und besuchen mit Simon Chatelan die westliche Schweiz. „Drytooling & Mixte Suisse Ouest“ heisst sein Topoführer und stellt 44 Gebiete im Jura sowie in den Walliser, Freiburger, Waadtländer und Berner Alpen vor, die sich zum Klettern in Eis, Fels und Gras sowie zum „Trockengerätlen“ eignen – nicht immer hat es ja genügend gefrorene Wasserfälle, weshalb sich KönnerInnen dann mit den Zacken der Steigeisen und Pickel an kleinsten felsigen Ritzen und Löchern in die Höhe hangeln. Nichts für Arm- und Nervenschwache, und für Gförlis schon gar nicht. Die Spannweite im Führer reicht von ganz kurzen Routen in der Twannbachschlucht bis zu den tausend Meter hohen Nordwänden von Matterhorn und Dent Blanche.

Andiamo! Aber vielleicht doch nicht ins Corona-Couloir in der Gäntu-Nordwand, sondern zur Grotta degli Svizzeri am Monte Gallo bei Palermo. Wenn wir den siebten Grad beim Klettern so locker beherrschen wie das Bestellen eines Caffè oder eines Bicchiere da vino blanco. Aber es gibt zum Glück noch unzählig leichtere Routen auf Sizilien. Massimo Cappuccio und Giuseppe Gallo haben sie gesammelt in ihrem 559seitigen Führer „Die Roccia di Sole – Klettergärten. Klettern auf Sizilien“. Ein Jahr wird nicht reichen, nur schon einen Teil der Routen zu klettern. Die Schweizergrotte wird so schmackhaft gemacht: „Die Qualität des hellen, kompakten Gesteins lässt nicht zu wünschen übrig. Das ruhige, nur wenige Minuten vom Meer entfernte Gebiet ist aber nicht nur bei Regen perfekt, sondern bietet sich auch an heißen Tagen an.“ Worauf warten wir noch?

Und falls es mal wirklich zu warm zum Klettern sein sollte, sei folgende Lektüre von Bernadette McDonald empfohlen: „Winter 8000. In eisiger Kälte auf den höchsten Bergen der Welt.“ Nach den drei packenden Werken „Klettern für Freiheit“ (die polnische Ära im Himalaya), „Der Weg zur Spitze. Die Geschichte des slowenischen Alpinismus“ sowie „Die Kunst der Freiheit. Voytek Kurtyka – Leben und Berge“ rollt die kanadischen Bestsellerautorin die eiskalte Geschichte der Winter(erst)besteigungen der vierzehn Achttausender auf, vom Everest am 17. Februar 1980 bis zum K2 am 16. Januar 2021. Die erste Frau, die im Winter auf einem 8000er stand, ist die Schweizerin Marianne Chapuisat, am 10. Februar 1993 auf dem Cho Oyu (8188 m). Ausschnitt aus dem von Jochen Hemmleb übersetzten Buch:

«Chapuisat war Mitglied eines internationalen Teams, das ohne Sherpa-Unterstützung und ohne zusätzlichen Sauerstoff unterwegs war. Für Marianne war eine Winterbesteigung des Cho Oyu so unwahrscheinlich wie ein Mondflug. Sie war erst 24 und ihr höchster Gipfel war bis dahin der 6959 Meter hohe Aconcagua gewesen. Ein Achttausender im Winter war daher eindeutig nicht der nächste logische Schritt. Aber Liebe ignoriert Logik. Als sie sich in den argentinischen Kletterer Miguel Sánchez verliebte, nahm sie seine Einladung zum Cho Oyu an. Sánches stand mit ihr auf dem Gipfel, begleitet vom Spanier Luis Arbues. (…)
Mehr als 25 Jahre danach ist Marianne noch immer von ihrer Besteigung begeistert. „Diese letzten Meter auf dem Gipfelplateau sind mir noch immer so deutlich in Erinnerung, als wäre es gerade erst gestern gewesen: die Gefühle sind intakt und stark, eine Art euphorisches Lebensgefühl, eine intensive Freude.“»

Simon Chatelan: Topo Drytooling & Mixte Suisse Ouest. Eigenverlag, 2021. Fr. 55.- bei Piz Buch & Berg in Zürich, www.pizbube.ch.

Massimo Cappuccio, Giuseppe Gallo: Di roccia di sole – Klettergärten. Klettern auf Sizilien. Edizioni Versante Sud, Milano 2022 (fünfte Auflage). € 35,00.

Bernadette McDonald: Winter 8000. In eisiger Kälte auf den höchsten Bergen der Welt. AS Verlag, Zürich 2022, Fr. 39.80.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert