Bei der diesjährigen Olympiade in Paris beginnt man, die Segel zu ordnen. Vor hundert Jahren starteten die Sommerspiele bereits am 4. Mai. Mit dabei eine Genfer Seglerin, als einzige Frau bei den Wettkämpfen auf der Seine.
«Il faut tenir, tenir, TENIR… jusqu’à ce qu’on ait gagné l’abri d’une crique sûre. Tenir à tout prix. Et cela va demander deux heures d’épuisante tension avec encore un louvoyage délicat dans la traîtrise de claques de vent imprévisibles… Mais lorsqu’on est enfin amarré à un corps-mort, voiles amenées en vrac, on vit un instant sans pareil… On est fier d’avoir tenu le coup.»
Halten, durchhalten, um jeden Preis. Bis man in Sicherheit ist. Im Windschatten, in einem Unterstand, in einer Hütte, in einer Bucht. Das Boot endlich an einem Ankerplatz festgemacht, die Segel eingeholt. Oder, um ins Gebirge zurückzukehren: das Seil aufgerollt. Bergsteigen und Segeln, vertikal vs. horizontal, aber existenziell beides, potentiell lebensgefährlich ebenfalls. Durchhalten um jeden Preis. Den Pickel halten, die Pinne halten. Im Sturm am Berg. Im Sturm am Wasser. Wie am 22. Juli 1924, als der Joran, dieser tückische, manchmal orkanartige Fallwind vom Jura her, den Lac Léman aufwühlte. Aber die beiden Seglerinnen auf der Gipsy hielten durch, während andere Boote die Regatta aufgaben. Hermine de Saussure und Ella Maillart erhielten gar einen Spezialpreis des Cercle nautique de Genève, für „leurs qualités presque viriles“! Nun, Ella Maillart – von ihr stammt das Einstiegszitat – kannte sich mit gendersportlichen Fragen und Vergleichen bestens aus. Und segeln konnte sie auch, nicht nur auf dem Lac Léman, sondern auch auf der Seine bei Paris.
Ella Maillart (1903–1997) aus Genf ist vor allem als Reiseschriftstellerin bekannt. Aber sie war auch eine Sportlerin erstens Ranges. 1922 gründete sie den ersten Landhockey-Club für Frauen in der Westschweiz, als Skiläuferin war sie Mitglied der Schweizer Nationalmannschaft. Das Segeln lernte sie in jugendlichen Jahren kennen, weil ihr Vater im Sommer jeweils ein Haus in Le Creux-de-Genthod bei Genf mietete. Dort freundete sie sich mit Hermine de Saussure (1901–1984) an, der Ur-Ur-Enkelin von Horace-Bénédict de Saussure, dem Drittbesteiger des Mont Blanc. Miette und Ella machten nicht nur die Tour du Lac auf verschiedenen Boot, sondern sorgten auch mit der Fahrt nach Korsika im Juni 1923 für Aufsehen, in nautischen Kreisen und überhaupt. Zwei so junge Frauen alleine auf einer Segeljacht im Mittelmeer, mon Dieu!
All das erfahren wir im neuen Bildband „Ella Maillart Navigatrice. Libre comme l’eau” von Carinne Bertola. Ein Werk für Seglerinnen. Bergsportler dürfen mitsegeln, auch wenn sie wohl nicht jeden Fachbegriff verstehen werden. Und sonst gibt‘s das Buch „Vagabundin des Meeres. Die Segel-Abenteuer einer Frau“, allerdings nur noch antiquarisch. In „Leben ohne Rast. Eine Frau fährt durch die Welt“ (1952) erzählt Ella Maillart ebenfalls, wie sie zum Segelsport gefunden hat. Dieses Buch ist vergriffen, aber die französische Ausgabe „Crosières et caravanes“ ist als Payot-Taschenbuch erhältlich, beispielweise in der Librairie Payot in Morges. Und dort ist noch bis zum 2. Juni die kleine, feine Ausstellung „Ella Maillart, navigatrice“ im Musée Bolle zu sehen. Die Teilnahme von Ella Maillart an den Olympischen Sommerspielen in Paris von 1924 ist selbstverständlich auch ein Thema; sie war die erste Frau, die ein Segelboot in einem olympischen Wettbewerb steuerte. Leider schied sie im Halbfinal aus und wurde neunte bei 17 Teilnehmern. „Ne pas participer aux finales me fut très dur“, schreibt sie in „Crosières et caravanes“. Die zweite Sommerolympiade von Paris – die erste fand im Jahr 1900 statt – startete am 4. Mai 1924 und dauerte bis zum 27. Juli. Kein Zufall, dass die dritte am 26. Juli 2024 beginnen wird.
Carinne Bertola: Ella Maillart Navigatrice. Libre comme l’eau. Édition Glénat, Grenoble 2024. € 36,00.
Ella Maillart: Vagabundin des Meeres. Die Segel-Abenteuer einer Frau. Edition Erdmann, 1991. Bei www.zvab.com
Ausstellung „Ella Maillart, navigatrice“ im Musée Bolle an der Rue Louis-de-Savoie 73-75 in der Altstadt von Morges. Offen Mittwoch bis Sonntag, 14 bis 17 Uhr. Noch bis 2. Juni 2024. https://museebolle.ch/expositions/ella-maillart-navigatrice/