Der erste Schweizer, der einen Achttausender bestieg, wird demnächst 90 Jahre alt. Ein bescheidener und engagierter Alpinist, eine wahre Legende.
Dieser Tage ruft mich Ursula Reiss an und auch Ernst kommt ans Telefon. Wieder zu Hause nach längerem Spitalaufenthalt, freut er sich auf seinen 90. Geburtstag am 24. Februar. Schwach ist er geworden, als ich ihn das letzte Mal besuchte, begleitete er mich mit seinen zwei Stöcken und kleinen Schritten zum Tram. Und während ich neben dem alten Mann ging, stellte ich mir vor, wie er vor über einem halben Jahrhundert, am 18. Mai 1956, die Zweierseilschaft durch die steile Eisrinne auf den 8516 Meter hohen Lhotse führt und als erster Schweizer seinen Fuss auf einen Achttausender setzt, einen noch unbestiegenen, viel schwierigeren als den Everest. Erst zwanzig Jahre später wird die Route wiederholt, die er an einem Sturmtag in einem Handstreich mit Fritz Luchsinger führte. Ernst Reiss ist eine alpine Legende, die fast 700 Meter durch steilstes Eis und senkrechte Felsstufen zum Gipfel meisterten er und sein Gefährte in einem Stil, wie er erst in jüngster Zeit im Höhenbergsteigen möglich geworden ist. Sie waren ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus.
Reiss schildert den historischen Augenblick auf dem Gipfel in seiner leider vergriffenen Autobiografie «Mein Weg als Bergsteiger»:
«Wie der Flügel eines Jagdflugzeuges ragt die eigentliche Gipfelkalotte in trügerisches Sonnenlicht und ziehende Nebel. Die paar Stufen in dem zähen Firn verlangten hundert Pickelhiebe. Ausser Atem drücke ich den Kopf zum Verschnaufen an die Flanke, bis ein paar heftige Windstösse ihre Kraft verloren haben. Den Pickel bis zur Haue eingerammt, sichern wir uns aus kurzer Distanz. Mein verschwiegener Gefährte, der noch vor sieben Wochen todkrank war, hat in die grosse Standstufe aufgeschlossen. Etwas vorgeneigt können wir über die handbreite Eiskante hinweg nach dem bodenlosen Südabsturz oder mehr links auf die nahezu in die Luft gehängten Eistürme des Ostgrates sehen. Weiss und dunkel reflektierende Wolken nehmen uns den weiteren Ausblick. Wir haben den höchsten Punkt des 8501 Meter hohen Lhotse betreten.
Tief unten liegt die Vergangenheit der letzten Tage, die nicht mehr sichtbaren Lager und Spuren unserer Kameraden. Der Weg zurück nach der Heimat scheint seinen wirklichen Zusammenhang verloren zu haben. Über uns steht die Unendlichkeit.»
Reiss, gelernter Schlosser, war in jener Schweizer Expedition, der auch die Zweit- und Drittbesteigung des Everest gelang, zusammen mit Dölf Reist ein Arbeiter unter Akademikern und Offizieren. Beide waren nebst der Mitgliedschaft im Alpen-Club auch aktiv bei den linken Naturfreunden. Ernst und Ursula Reiss machen auch heute noch keinen Hehl aus ihrer sozial engagierten Gesinnung, sie sind Mitglied bei den «Grauen Panthern», den politisch engagierten Senioren. Als ich Ere, wie man ihn nennt, am Telefon sage, wie ich seine damalige Leistung bewundere, winkt er ab: «Auch Putzfrauen leisten viel.» Vielleicht ist es seine Bescheidenheit, die ihm in der Alpingeschichte der Schweiz noch nicht den Platz gewährt hat, der ihm eigentlich gehört: als einen der Grössten. So ist zu hoffen, dass sein 90. Geburtstag nicht vergessen geht.
Reiss, Ernst: Mein Weg als Bergsteiger. Verlag Huber & Co. AG, Frauenfeld 1962. Antiquarisch oder aus Bibliotheken.
Vor wenigen Tagen durfte ich Frau Ursula Reiss an einer Abdankung einer Verwandten in Davos treffen. Dabei habe ich leider efahren, dass Ernst Reiss vor kurzem gestorben ist. Die Nachricht hat mich traurig gestimmt, durfte Ernst seinen neunzigsten Geburtstag nicht mehr erleben.
Hanspeter Frey, Malans