Die magische Grenze liegt bei Bergsteigern bei viertausend Metern. Es gibt zwar Berge, die tiefer liegen und durchaus attraktiver sind. Aber das können sie uns noch lange versuchen klarzumachen. © Annette Frommherz
Ich war kurzatmiger als in tieferen Lagen. Unter uns lag still der Gletscher und liess sich von meiner Stirnlampe beleuchten. Fünf Uhr morgens, seit einer Stunde waren wir unterwegs Richtung Alphubel. In der kurzen Nacht hatte ich kaum ein Auge zugemacht, denn die Herren der Schöpfung hatten sich in durchdringendem Schnarchen gemessen. Aber Berghütten sind ja nicht zum Schlafen da, nur zum Übernachten.
Es wurde Zeit mit meinem ersten Viertausender. Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann wehe. Ich wusste, ich würde mir selber nicht nachgeben und das Objekt der Begierde noch vor meinem runden Geburtstag besteigen. So hatte ich es mit mir ausgemacht. Das Wallis gibt eine anständige Auswahl an Viertausendern her, sodass uns die Wahl nicht leicht gefallen war. Wir entschieden uns für den Alphubel, von der Täschhütte her über den Südostgrat, die „Eisnase“ hinauf. Von diesem Berg aus, so wurde mir versprochen, könne das Matterhorn in seiner ganzen Pracht bestaunt werden – schönes Wetter vorausgesetzt. Die Wolken spielten ein bisschen Verstecken. Mal hüllten sie den Prachtsberg in ein weisses Röckchen, mal legten sie sich als Schleier um den Gipfel, so, als wollten sie uns necken.
Embrüff, auf Walliser Deutsch „hinauf“, geht es Tausendfünfhundert Höhenmeter bis zum Gipfel des Alphubels. Dorthin, auf 4‘207 müM, gelangten wir die letzten hundert Meter durch dichten Nebel.
Wir vermissten das Gipfelkreuz, obwohl ich gut und gerne auf Kreuze verzichten mag. Es liege unter unseren Füssen unter dem Schnee, sagte uns der Bergführer, der seinen Gast auf dessen siebzigsten Viertausender hinaufgeführt hatte. Ich beglückwünschte ihn zu seinem Rekord, er gratulierte mir zu meinem ersten Viertausender. Mein Glücksgefühl hielt sich in Grenzen, als ich mich in der Kälte hinsetzte und aus meiner Guttra heissen Tee trank. Irgendwie hatte ich mir mein Ziel grandioser, bemerkenswerter und herausfordernder vorgestellt.
Die Kälte und der Nebel liessen uns nicht lange auf dem Gipfel weilen. Als wir abstiegen, unseren Berg von der anderen Seite her umrundeten und zum Alphubeljoch gelangten, wurde uns doch noch der volle Blick aufs Matterhorn geschenkt. Diese leicht geknickte Spitze, diese mächtigen Flanken, diese steilen Grate! Einhundertneunundvierzig Jahre sind es her, seit erstmals die Besteigung des Berges gelang. Ein Einheimischer sagte uns später, das Matterhorn entfalte seine Schönheit nur auf Schweizer Seite. Von der italienischen Seite her sei ds‘ Horu, wie die Walliser es liebevoll nennen, nur ein unbedeutender Tschugge, ein Felsen. Stolz sind sie, die Walliser.
Als wir uns vom Alpentaxi nach Täsch bringen liessen, sog ich nochmals mit allen Sinnen die Alpenwelt ein. Meine innere Stimme sagte: In diese Gegend müssen wir mal wieder. Die vertraute Stimme neben mir sagte: «In diese Gegend müssen wir wieder mal. Hier gibt es noch viel zu tun.»