Näher kommt man dem Mond zu Fuss nicht als auf dem Mount Everest. Ausser vielleicht mit Büchern und Zeitschriften…
– Nous les alpinistes, on désepère de s’échapper vers le haut, vers les sommets… ces fameux sommets… à la tienne…
Georges cogne son verre contre le mien, écrase sa cigarette dans un cendrier en forme de main de femme.
– On peut dire qu’il n’y en a qu’un qui s’est vraiment échappé.
– Qui ?
– Auguste bien sûr !
– Tu veux dire avec l’Everest ?
– Avec l’Everest, exactement.
Gesprächsausschnitt zwischen dem Führeraspiranten Alex, dem Icherzähler im Berg- und Liebesroman „Saskia“ von Guillaume Desmurs, und Georges, einem alten Bergführer, bei dem Alex in Chamonix Unterschlupf gefunden hat. Auguste seinerseits ist der berühmteste Führer von Chamonix, weil ihm 1947 die Erstbesteigung des Everest gelungen ist. Aber war er wirklich der Erste – in diesem Roman? Denn ein paar Zeilen weiter unten im Gespräch übergibt Georges seinem Untermieter das Tourenbuch von Andrew Irvine, dem tatsächlichen möglichen Everest-Erstbesteiger, der am Morgen des 8. Juni 1924 zusammen mit Georges Mallory zum höchsten Gipfel der Welt aufbrach. Ob die beiden ihn erreichten, weiss man nicht. 1999 wurde die Leiche Mallorys auf 8150 Metern gefunden, leider aber keine Beweise für einen Gipfelerfolg. Doch nun hält Alex das Carnet von Irvine in der Hand, darin dieser den Weg auf den Gipfel beschreibt, den Absturz des Gefährten, seinen verzweifelten Abstieg und schliesslich die Rettung ins Kloster Rongbuk. Was für eine Geschichte, die sich Desmurs da ausgedacht hat!
Sein Roman spielt in drei Zeitabschnitten: am 9. und 10. Juni 1999, am 18. Juli 2019 sowie am 14. und 15. September 2039. Im Mittelpunkt immer Alex, seine Liebe und Geliebte Saskia, die Tochter von Auguste. Sowie dieses geheime Everest-Tagebuch von Irvine, das die Geschichte des Alpinismus, die Glorie von Auguste und das Liebesseil zwischen Alex und Saskia zu zerreissen droht und es auch tut. Noch schlimmer ist aber die Umweltkatastrophe in Chamonix, die den Ort unbewohnbar gemacht hat, weshalb er nun ähnlich heisst wie Tschernobyl: „… être dans Chamnobyl, c’est être dans la zone de la mort au-dessus de 8000 mètres d’altitude.“ Fiktion, klar, sehr weit weg. Und doch: Wie Alex und Saskia in diese Todeszone eindringen und sich dann durch die von Alex eingerichtete Kletterroute „Saskia‘s Way“ Richtung Italien retten wollen, ist so atemberaubend wie überzeugend. Ob sie davonkommen, steht in den Sternen, die sie hoch oben in der Wand betrachten, ganz am Schluss des Romans.
Zurück auf sicheren Grund. Allerdings: Hat sich nicht auch George Mallory zur Flucht nach oben gesehnt, zu den Gipfeln, diesen berühmten Gipfeln? Das erfahren wir im Buch „Vers l’Everest“, das Charlie Buffet herausgegeben hat. Alle Schriften von George Mallory sind darin gesammelt: philosophische Texte, Tourenberichte, Briefe an seine Frau Ruth, bis hin zur letzten Nachricht, die einem Sherpa anvertraut wurde. „Bergsteiger lassen keinen emotionalen Unterschied zwischen dem Bergsteigen und der Kunst zu. Sie behaupten, dass etwas Erhabenes das Wesen des Bergsteigens ausmacht. Sie können den Ruf der Gipfel mit einer wunderbaren Melodie vergleichen, und der Vergleich ist nicht lächerlich.“ Und seinen Berg beschrieb er 1921 so: „Eine ungleiche dreieckige Masse tauchte aus der Tiefe auf; ihre Seite verlor sich in den Wolken. Ganz allmählich sahen wir die Flanken eines grossen Berges, seine Gletscher und Grate, mal einen Glanz, mal einen anderen durch die sich bewegenden Scharten hindurch, bis schliesslich, viel höher am Himmel, als es die Phantasie zu erahnen gewagt hatte, der weisse Gipfel des Mount Everest erschien. Es war wie die verrückteste Schöpfung eines Traums.“
32 Jahre später ging er in Erfüllung. „Um 11.30 Uhr des 29. Mai 1953 gingen ein Imker und ein ehemaliger Yak-Hirte schleppend ihre letzten Schritte auf die schneebedeckte Kuppel. Müde und schwer atmend konnten sie einfach nicht mehr weitergehen – es gab nichts, wohin sie noch gehen konnten.“ So beginnt das Buch „Everest. Das Abenteuer von Edmund Hillary und Tenzing Norgay“ mit dem Text von Alexandra Stewart und den Zeichnungen von Joe Todd-Stanton. Klar, die Geschichte der Erstbesteigung des dritten Pols ist nicht neu. Doch so frisch erzählt und frisch gezeichnet ist es durchaus unterhaltend und informativ, nochmals in sie einzutauchen. „Sie hatten das Dach der Welt bestiegen. Zufrieden – und vielleicht ein wenig überrascht – schauten die beiden hinunter auf die Erde. So hoch hatte noch nie ein Mensch vor ihnen gestanden.“
Wir bleiben oben. „Wir gingen um 21.45 Uhr aus dem letzten Hochlager los, etwa auf 8300 Meter, damit wir beim Sonnenaufgang oben sind. Mein Mann und ich waren alleine vorne, wir waren sehr schnell, und als wir nach knapp sechs Stunden oben waren, war es immer noch stockfinster“, erinnert sich Andrea Sherpa-Zimmermann im langen Gespräch mit Fabian Ruch, das in der 14. Ausgabe von „SPORTLERIN. Das Schweizer Frauen-Sportmagazin“ erschien. „Das war fast schon enttäuschend. Wir sahen nichts, wir hätten auch irgendwo im Berner Oberland auf einem Hügel sein können. Aber mein Mann sagte, die Wetterprognosen seien ausgezeichnet, also blieben wir oben, und der Sonnenaufgang war unglaublich, das ist unbeschreiblich.“ Die Rechtsanwältin Andrea Zimmermann, geboren am 18. August 1978 in Biel, heiratete 2015 Norbu Sherpa; im Jahr darauf standen sie ganz oben auf 8848 Meter über Meer. Zusammen führen sie das Touristik-Unternehmen Wild Yak Expeditions. 2016 war „Miss Mount Everest“, so das Frauen-Sportmagazin, die neunte Schweizerin auf dem Everest: „Es gibt immer mehr Frauen, die es wagen, auf eine solche Expedition zu gehen. Sogar einige nepalesische Frauen standen ganz oben, was mich besonders freut.“
Dieser Trend zeigt sich ebenfalls in der Recherche „Restrisiko und Everestrisiko“, die in der Frühlingsausgabe 2024 der Zeitschrift „bergundsteigen. Menschen – Berge – Unsicherheit“ abgedruckt ist: „Nach einhundert Jahren Bergsteigergeschichte am höchsten Berg der Welt häufen sich die Unfälle. Doch langfristig sinkt das Risiko. Und vielleicht bald auch das Interesse.“ Von Letzterem merkt man noch keinen Eiskristall. Im Gegenteil: Hinten im Heft zum Beispiel findet sich unter dem Titel „Die Eroberung des dritten Pols“ ein grosses Interview mit dem 91jährigen Kanchha Sherpa, dem letzten noch lebenden Teilnehmer der gipfelerfolgreichen Expedition von 1953. Auf die Frage, wie er jetzt zurückdenkt an die Expedition, sagte er: „Es war ein magisches Ereignis, das ich nicht erklären kann. Wir Sherpas haben entscheidend zum Erfolge beigetragen, weil wir den Weg bereitet haben. Aber ich frage mich noch immer, wie Hillary und Tenzing den Rest des Weges bis zum Gipfel geschafft haben. Für mich sah es vom Südsattel, wo ich zuletzt gestanden hatte, unmöglich aus.“
Guillaume Desmurs: Saskia. Éditions Guérin, Chamonix 2024. € 21,00
George Mallory: Vers l’Everest. Inédits du célébrissime George Mallory, premier disparu de l’Everest. Traduit de l’anglais par Charlie Buffet. Éditions Guérin, Chamonix 2024. € 25,00.
Alexandra Stewart, Joe Todd-Stanton: Everest. Das Abenteuer von Edmund Hillary und Tenzing Norgay. Vorwort von Ranulph Fiennes. Midas Verlag, Zürich 2023. Fr. 28.-
Andrea Sherpa-Zimmermann. Miss Mount Everest, in: SPORTLERIN. Das Schweizer Frauen-Sportmagazin, N° 14. Fr. 10.-; Jahresabo für 4 Ausgaben Fr. 30.- www.sportlerin-magazin.ch
bergundsteigen. Frühling 2024, #126. Schwerpunktthema: Sucht. www.bergundsteigen.com