Diese Buch- und Ausstellungsbesprechung ist auch ein Lehrtext. Was ist ein Ex Libris? Ein Verlag, der früher auch mal Schweizer Literatur herausgab? Ein Unternehmen der Migros-Gruppe? Eine Firma, die Bücher schreddert? Bitte lesen Sie weiter und erfahren Sie das Geheimnis des lateinischen Begriffs. Und noch viel mehr.
„Uno spazio di libertà in pochi centimetri quadrati.“
So nennt der italienische Sammler und Buchantiquar Gastone Mingardi die Ex Libris, also jene nur Quadratzentimeter kleinen Kunstwerke aus Papier, die vorne in ein Buch geklebt werden, um damit zu markieren und zu zeigen, wem es gehört. Einer Privatperson, einem Verein, einem Hotel oder Hütte, auch einer Bibliothek. Solche Buchbesitzpapiere wurden erstmals in Deutschland im 15. Jahrhundert verwendet; sie erfreuten sich vor allem im 19. und 20. Jahrhundert grosser Beliebtheit. Zu meiner Taufe erhielt ich mein Ex Libris, 4,5 x 5,5 cm gross, gestaltet von Grossonkel Hans Schreyer, Graphiker und Bergsteiger. Aber er wählte kein alpines Sujet, sondern ein maritimes: meine Initialen geformt aus einer weissen Leine, die mit einem weissen Anker auf blauem Grund verbunden ist.
Auch wenn Signor Mingardi mein Ex Libris gekannt hätte, wäre es nicht in seine Sammlung aufgenommen worden. Denn er sammelte nur gebirgige Sujets. Und eine Leine, ein Seil macht ja noch keinen Berg. Doch wenn ein solcher zu sehen, ja gar nur zu erahnen ist, zum Beispiel als Hintergrund für eine nackte Frau – wie beim Ex Libris von Eduard Rüfenacht von 1903, gemalt vom berühmten Berner Plakatmaler Emil Cardinaux –, dann fand eine solche Zeichnung natürlich Gefallen.
Nun hat Gastone Mingardi seine Sammlung dem Museo Nazionale della Montagna „Duca degli Abruzzi“ di Torino vermacht, wohin sie perfekt passt. Denn ein Spezialgebiet des Alpinmuseums von Turin sind alpine Erscheinungen auf Druckzeugnissen: Plakate, Titelbilder von Zeitschriften, Reklamemarken, Albums, Prospekte, Kofferkleber, Fruchtpapiere, Etiketten, Verpackungen, Speisekarten, Kalenderblätter, Aktien, Banknoten, Kreditkarten etc. Und eben Ex Libris. Dazu gibt es jetzt eine Ausstellung und einen Katalog aus der Reihe „Raccolte di documentazione del Museo Nazionale della Montagna“. Das Buch umfasst 264 Seiten und 546 Ex Libris von 1593 bis heute (sie werden hinten genau beschrieben), enthält schlaue Texte auf Italienisch und Englisch, ein Künstlerverzeichnis und eine Bibliographie.
Beim Anschauen wird wieder einmal offenbar, wie ungemein vielfältig Alpines dargestellt wird, gerade auch auf diesen kleinen Abbildungen, für die der Künstler offenbar noch mehr Freiheiten geniessen konnte als sonst. Welcher Gipfel, wenn ein erkennbarer gewählt wurde, am meisten zu sehen ist, dürfte klar sein: das Matterhorn. Erstaunlich allerdings, dass das Bucheignerzeichen von Antonio Carrel, bekannter Bergführer von Breuil-Cervinia, nicht die italienische Seite zeigt, sondern diejenige von Zermatt. Passender dasjenige von Emilio Comici: die Nordwand der Grossen Zinne, die er 1933 erstmals durchstieg. Besonders gelungen, und deshalb auch als Sujet für Buchumschlag und Ausstellungsplakat gewählt: Hans Dotzler sitzend auf einem Berg von Büchern. Und was steht auf dem ersten Ex Libris von Reinhold Messner von 1979? „Più in alto, più in libero.“
Ex Libris delle Montagne. Incisori di vette. A cura di Aldo Audisio e Laura Gallo. Raccolte di documentazione del Museo Nazionale della Montagna. Priuli & Verlucca, Ivrea 2016, Euro 37.50
Ex Libris delle Montagne. Incisori di vette. Ausstellung im Museo Nazionale della Montagna „Duca degli Abruzzi“ in Turin vom 1. Juli bis 27. November 2016. www.museomontagna.org