Rotpunkt am Berg aus Papier. Eine Rettungsaktion an der Falesia del Silenzio wird zum Buch. Nach Jahren, nach vielen Versuchen.
Heute den Rotpunkt geschafft. Nicht am Berg, sondern am Berg aus Papier. Auch Bücher brauchen oft mehrere Versuche, bis man das Ende erreicht, den letzten Punkt. Geduld auch, Beharrlichkeit, Hingabe, Passion. Und Zeit, viel Zeit.
Die Tour, die ich heute zu Ende gebracht habe, hat am 1. Januar 1992 begonnen. An der Falesia del Silenzio, Finale Ligure. Auf dem Abstieg nach einem intensiven Sportklettertag stossen wir auf eine Gruppe aufgeregter Kletterer, einer liegt am Boden unter der Wand, schwer verletzt, abgestürzt wegen eines Sicherungsfehlers. Das Gebiet ist recht unwegsam, es ist Abend, es wird früh dunkel und kalt. Die Rettungsaktion dauert sechs Stunden, ein absurdes Theater mit Dutzenden von Helfern, nutzlosen Helikoptern, schlecht ausgerüsteten Sanitätern, der Feuerwehr von Savona, komplizierten Seilmanövern, Gaffern, Polizei, Presse. Ich spiele Übersetzer in einem babylonischen Sprachgewirr. Vermittle etwa zwischen einem deutschen Arzt und einem italienischen Feuerwehrkommandanten. Und während der ganzen Zeit denke ich: Das wird mal ein Buch!
Drei oder vier Jahre später ein erster Versuch. Gescheitert. Mehrere Anläufe, wie bei einer schwierigen Route eben. Immer wieder aufgegeben, endgültig den Bettel hingeworfen, alle Entwürfe in Archivschachteln gesteckt, und doch wieder hervorgeholt und angepackt. Und heute also der letzte Punkt. So ist es, wenn man nach dem x-ten Versuch die Umlenkung einer schwierigen Route erreicht, rotpunkt. War’s das wirklich? Wie hab ich das nur geschafft?
Routen sind Partituren, die mir eine eigene Geschichte offerieren – ebenso wie ein Buch. Ich setze nicht Bohrhaken, sondern Wörter und Sätze. Mein Manuskript ist das Resultat einer Erstbegehung, aus dem Nichts schaffe ich eine Möglichkeit. Jeder Leser, jede Leserin erlebt ihre eigene Geschichte auf meiner Spur. Bleibt hängen, gibt auf oder packt nochmals an.
Oder anders: Aus meinem Leben schöpfe ich, forme um, gestalte. Jedes Buch ist ein Angebot, wie jede Route.
Nun ist es also da, Arbeitstitel: Finale. Was immer das bedeutet. Ein Ort zum Klettern oder ein Ende. Gerne würde ich es dem damals Verunglückten widmen, aber ich habe ihn nie mehr auffinden können. Sein Name stand anderntags in der Zeitung, samt einer Lobeshymne auf das absurde Theater der Feuerwehr, auf den Helikopter, dessen Seilwinde nicht funktionierte und die Ärzte, die in feinen Lederschuhen unten im Tal warteten, bis der von Schmerzen gepeinigte Verletzte eintraf. Der junge Mann soll ein Österreicher gewesen sein, Rudolf Sachner mit Namen. Vielleicht hiess er wirklich so, vielleicht anders. Jedenfalls soll er den schweren Sturz überlebt haben.