Fels und Stein, die sind mein. Wasser noch besser. Zusammen ergeben sie mir das Höchste aller Begierden. Mir ist schleierhaft, weshalb es mich so lange nicht durch Schluchten getrieben hat. © Annette Frommherz
Canyoning ist das Zauberwort. Noch aber liegen mir die ungezählten Kurven ins Bergell hinunter schwer im Magen, als mir einfällt, dass ich ohne Euro unterwegs bin. Meinen Liebsten kann ich nicht um ein zinsloses Darlehen bitten; er musste auf meinen Befehl hin seine Batzen zu Hause lassen. Von Silvaplana bis nach Mese hinunter wedle ich den Hunderter an jeder Tankstelle und in mancher Trattoria, aber keiner will meinen starken Franken. Alle werfen sie erschrocken ihre Arme in die Höhe, als hielte ich ihnen die Pistole ins Gesicht.
Nicht dass wir vorgehabt hätten, an diesem Sonnentag die schmucken Läden in Chiavenna zu stürmen, sondern weil es Ehrensache ist, die Konsumation des Bergführers zu übernehmen. So muss ich – Asche auf mein Haupt – den Führer selber und mitsamt unserer Zeche zahlen lassen. Leo Blättler winkt zwar ab, so schlimm sei das nicht. Doch ich schäme mich ein bisschen weiter, bis ich ihm meine Schulden mit hartem Franken begleichen darf.
Tags zuvor hatten wir kurz vor Bivio eine Kaffeepause eingebaut. Im Stübli des Gasthauses musste ich beinahe bäuchlings vor dem Fernseh-Bildschirm durchkriechen, weil der Wirt und ein paar andere Unverbesserliche der Charlene und dem Albert beim heiraten zusehen wollten. So hoch hinauf in die Berge also kommt Monaco mit seinem fürstlichen Adel.
In Cordona in bella italia steht die Zeit an diesem Sonntag still. Nur die Nonna sitzt auf einem Stuhl am Rande der Strasse. Wir biegen rechts ab. Durch das Val Bodengo schlängelt sich die Schlucht in flinken Bögen. Ich freue mich wie ein kleines Kind auf unser Vorhaben. Lange genug hat mein Liebster von seinen ersten Canyoning-Erfahrungen berichtet und mir damit den Honig um den Mund gestrichen.
Alpintechnische Voraussetzungen müssen für die gewählte Einsteiger-Route nicht mitgebracht werden, aber es ist von Vorteil, mit Seil und Karabiner vertraut zu sein. Wir sind beim Einstieg nicht die Einzigen. Selbst Leo ist überrascht vom grossen Andrang. Der Neopren-Anzug lässt uns zu Wesen aus einer anderen Welt mutieren. Leo erklärt uns die Tücken und Gefahren des Wassers, das von trügerisch träge in tosende Wassermassen wechseln kann, kaum entlädt sich ein Gewitter in der Nähe oder an Ort. Heute sieht es ganz so aus, als kämen wir um solches herum.
Wasser ist mein Element. Ich lasse mich also hineingleiten in diese altvertraute und doch neue Sphäre. Die Tour bietet alles: schöne Rutschbahnen über geschliffenes Gestein, Heruntergleiten mit der Seilrutsche und Abseilen über Felswände direkt ins tosende, kalte Nass. Nichts mit dolce far niente: Wir wollen ein zweites Mal in der gleichen Route durch die Schlucht. Diesmal sind wir alleine, diesmal ist alles anders. Das Licht des frühen Nachmittags flimmert im ausgewaschenen Becken. Anmutige Felsformen sehen wir mit neuen Augen. Es ist die gute Laune der Natur, uns dieses Bild zu bieten. Uns kommt es vor, als beginne gleich beim nächsten Wasserfall das Paradies. Zum fulminanten Finale seilen wir uns zu einer kleinen Felsnase ab, von wo aus der Blick in ein türkisgrünes Wasserbecken fällt. Acht Meter lassen wir uns durch die Luft fallen, um gleich darauf die Wasseroberfläche zu durchdringen. Perfetto!
Später sitzen wir in der Trattoria Dunadiv – mit einer wunderbaren und kostenlosen Aussicht auf die Ebene und die gegenüberliegenden Gipfel – und lassen uns Bresaola con Pane servieren und danach einen grosszügigen Teller Pasta, so wie es sich gehört. Leo lässt seine Jahre vorbeiziehen als Koch, Bergführer, Skilehrer und Geschäftsführer einer alteingesessenen Erlebnis-Firma in St. Moritz. Hätten wir nicht irgendwann wieder über den Splügen nach Hause müssen, weil die Pflicht ruft: wir sässen wohl noch heute und lauschten Leos wilden Geschichten. So verabschieden wir ihn mit dem ergebensten Dank. Kaum einer hat wohl so viel Erfahrung in Bergen und Wasser wie er und nicht mancher so viel Energie. Und das in einem Alter, in dem andere die Beine hochlagern.
Nachdem ich mich endlich schwach daran erinnern kann, dass auch Italien über Bancomate verfügt, komme ich doch noch zu Euros. Die brauchen wir dringend, denn ohne Gelati und Espresso verlasse ich dieses Land auf keinen Fall. Basta!