Ein Besuch in der Heimat des grossen Bergführers Christian Klucker (1853-1928), einem «Pionier und Edelmann» wie ihn John Percy Farrar charakterisierte, einst Präsident des renommierten Alpine Clubs.
«Am 29. September sah ich die blauen Seen meines Engadin wieder und öffnete am Abend die Tür in meinen Bau. Das Fextal trug die gelbroten Farben des Herbstes, und in den Höhen rüstete der Winter sein weißes Kleid.» Das schrieb Christian Klucker über seine Rückkehr von der Kanada-Expedition mit Edward Whymper im Herbst 1901. Glücklich, heil wieder zu Hause zu sein und enttäuscht von seiner einzigen aussereuropäischen Fahrt mit dem Matterhorn-Erstbesteiger, der inzwischen ein alter, unberechenbarer Alkoholiker geworden war.
Heute, 108 Jahre später, an einem melancholischen Herbsttag wie damals, stehen wir im Friedhof der kleinen Kirche von Fex Crasta vor einem Granitstein, der an einen der hervorragendsten Schweizer Bergführer erinnert. Das in Stein gemeisselte Geburtsjahr ist zwar falsch, er kam 1853 zur Welt, aber das wird ihn wenig mehr kümmern. Obwohl er es zeitlebens mit Zahlen sehr genau nahm. Oft musste er seine «Herren» und Auftraggeber zurechtweisen, wenn sie eine falsche Höhenangabe, Marschzeit oder Neigung eines Eishangs publizierten. Das falsche Geburtsjahr ist also fast eine Ironie auf einen, der es immer sehr genau nahm. Auch am Berg: Nie in seinem Leben habe er einen Mauerhaken oder Abseilring benutzt, das betont er mehrmals in seinen Schriften, Klucker gilt heute als ein früher Vertreter des Freikletterns «by fair means». Im Juli 1882 kletterte er in drei Stunden zwei Drittel der noch unbegangenen Badile-Nordkante hinauf, solo und in zerrissenen Socken, und dann auch wieder hinunter – das soll ihm mal einer nachmachen.
Spaziergang durchs Fextal, Kluckers Heimat, auf touristisch angelegten Wegen durch lichten Lärchenwald, die Nadeln schon gelb. Im Talgrund steht die Sonne hoch über dem Piz Fora und dem verkümmerten Fexgletscher. Wir kehren nochmals zurück, um den Gedenkstein in besserem Licht zu fotografieren. Ein deutsches Ehepaar tritt aus der Kapelle, «Klucker, ah, der grosse Bergführer!» Die Leute wissen einiges über ihn, das «tuusigs Männli» aus dem Fextal ist eine Legende, auch heute noch.
Am Abend zuvor im Promontogno im Hotel Bregaglia, wo Kluckers meist gehasster «Herr», der russische Baron Anton von Rydzewski logierte, fand eine szenische Lesung zum Drama dieser seltsamen Seilschaft statt. «Ein Russ im Bergell» mit Gian Rupf und René Schnoz. Sehr ergreifend, am Tatort sozusagen, Blick hoch zum Badile im Abendlicht. Während zehn Sommern erschloss Klucker einen guten Teil der Bergeller Berge mit dem Russen, den er so charakterisiert: «Das Allerschlimmste bei diesem Manne waren seine stark entwickelte Nervosität und seine schrankenlose Ränkesucht, welche Übel durch starke gichtische Veranlagung noch gesteigert wurden. Der Umgang mit ihm war, wenn obige Faktoren sich einstellten, ein äußerst unangenehmer.»
Trotzdem liess er sich während zehn Sommern von ihm engagieren, weil er sonst niemanden fand, der sich für die Bergeller Granit- und Eisrouten und Gipfel interessierte. Ein Drama also, das im April im Sogar Theater in Zürich und an der literarischen Bergfahrt 2010 in Amden auf die Bühne kommt. Gegenwärtig bin ich sozusagen von Kluckeritits befallen. Nebst dem Stück arbeite ich auch noch an der Neuausgabe von Kluckers Autobiografie Erinnerungen eines Bergführers. Ein Stück Alpingeschichte «von unten», einmal nicht vom «Herrn», sondern vom Führer geschrieben, eine spannende, humorvolle, akribische, ironische, manchmal wütende, melancholische und tragische Geschichte. Ein Dokument der Wende im Verhältnis zwischen Bergführer und Gast.
Ein schöner Bericht…