Hundert Erstbegehungen, zehntausend Haken geschlagen. Besuch bei der Kletterlegende FA.
«Endlich regnet es wieder mal, es ist schon alles verdorrt hier», sagt Franz Anderrüthi. Er wartet auf mich auf dem Bänklein vor dem Haus im Engadin, als es eben zu tröpfeln beginnt. Heute mag er auf seine tägliche Velotour verzichten, beinahe so passioniert ist er auf dem Bike unterwegs, wie er früher kletterte. Dabei wird er nächstes Jahr achtzig! Braun gebrannt, muskulöse Statur. Seine Kraft war so legendär wie seine Kletterkunst, vor allem auf feinsten Platten. «Platteschliicher nannte man mich», lacht er. Schon die direkte Mythen-Westwand, 1955 erstbegangen mit Franz Bossart, schloss mit einem Quergang ab. Ebenso die kleine Westkante im Bockmattli mit dem grossen Dachüberhang, den Franz ohne Trittleitern schaffte, damals. Im Quergang des Kingspitz-Nordostpfeilers, den er frei erstbeging, steckten Bohrhaken, als er sie wiedermal kletterte. Ich blättere durch seine Tourenbücher, in sauberer Handschrift hat er akribisch all seine vielen Routen und Erstbegehungen festgehalten. Die Beschreibungen sind verloren gegangen, wohl beim Umzug nach der Pensionierung von Schwyz ins Engadin, ins Elternhaus seiner Frau Notta.
Franz war Maler von Beruf. Später Hauswart einer Wohnsiedlung der Genossame Schwyz, weil er die Lösungsmittel nicht mehr ertrug. In den Mythen begann er 1946 mit Klettern, es gab noch wenige Routen, viel Gelände also für Franz, der vor allem auf Erstbegehungen zu Hochform auflief. «Ich hatte einfach die Nase für Routen», sagt er, «weiss selber nicht warum.» Er sei ein hervorragender Kletterer, sagte ihm ein Freund, «aber auf neuen Routen, da bist du der Teufel!»
Ich weiss nicht, wie vielen Haken mit dem Initial FA ich selber begegnet bin auf seinen Routen, die Klassiker geworden sind. Etwa die Zwillingsturm-Südostwand mit Max Niedermann, die 1956 im Salbitschijen-Granit neue Massstäbe setzte. Seine Haken sassen, das wusste man. Auch seine Holzkeile, von denen mir einer im direkten Ausstieg der Scheienfluh-Westwand noch in lebhafter Erinnerung ist. Unter den Füssen dreihundert Meter Luft, der Holzkeil knarrte leise, während ich vorsichtig in der Trittleiter höher stieg. Franz lacht: «Auf der Originalroute von Peter Diener und Max Niedermann seilt man nach rechts in einen Kamin ab. Aber ich hasste Kamine, also sagte ich: direkt hinauf gehts auch!»
Franz trainierte, manchmal auch heimlich im Dachgebälk, an Mauern oder an den Felszacken Peter und Paul am kleinen Mythen. Machte Bergläufe und Langlauf, nahm ein Dutzend Mal an der Schweizer Meisterschaft teil. «Aber alles nur fürs Klettern! Ich habe nur fürs Bergsteigen gelebt.» Die langen Routen an den Mythen waren für ihn eine gute Vorbereitung für grosse Alpen- und Dolomitentouren. Der Fels ist gelegentlich brüchig, es gibt Gras und Geröll, man muss vorsichtig gehen. Zehn Routen hat er da gelegt, unter anderem die Nordverschneidung und die Ostwand am grossen Mythen, am Geisstock die Südostwand und den schweren Südpfeiler 1960 mit Kurt Grüter.
1963 machte Franz das Bergführerpatent und war fortan zwei Sommermonate mit Gästen in den ganzen Alpen unterwegs, oft auf schweren Touren. Seine sprichwörtliche Offenheit kam nicht immer gut an. «Ich habe halt auch mal meine Meinung gesagt, auch mit Recht», sagt er. «Aber es gab halt auch Neider.» Als Mitglied im illustren Kletterclub Alpstein KCA war er mit der Elite der Ostschweizer Kletterer unterwegs, konnte 1959 auch an der erfolgreichen Expedition von KCA und SAC in die peruanischen Anden teilnehmen. Ein Foto zeigt ihn auf dem Gipfel des Sechstausenders Pumasillo.
Vor 18 Jahren war dann plötzlich Ende. «Mein linker Fuss hielt nicht mehr.» Die Kraft war weg, selbst leichtere Routen habe er nicht mehr klettern können. Seither verlegte er sich ganz aufs Biken, auch das wieder kompromisslos leistungsorientiert. Nur wenn er mit alten Kollegen über die Berge rede, komme etwas wie Wehmut auf. Gelegentlich trifft sich die Alte Garde noch – etwa wenn wieder einer der grossen Pioniere des Schweizer Extremalpinismus gestorben ist.
Hoi Emil,
oben steht Geissstock SO-Pfeiler 1969 statt 1960
Grüsse
Hans
Danke, werde ich korrigieren.
Emil