Frostige Zeiten

Vereinbarte Klettertermine lassen sich ohne triftigen Grund nicht absagen. Das musste ich erfahren, als ich Minusgrade für ein Verschieben angeben wollte. Klettertermine seien Ehrensache, hiess es. Kälte hin oder her. © Annette Frommherz fallenflue-01-2012-19

Sein Flehen lässt mich erweichen. Er sei schon über einen Monat nicht mehr in seiner Fallenflue gewesen, sagt er am Telefon. Er, der in der Zwischenzeit eine Expedition auf den höchsten Berg Amerikas, dem Aconcagua, geleitet hat, will sich nicht abschütteln lassen. Ich stelle mir gerne vor, wie er den Hörer zwischen Achsel und Kopf klemmt, auf den Boden kniet und die Hände zum Bitten zusammenlegt. Ich tue, was ich in solchen Situationen sonst nie tue: Ich gebe nach.

Nach der bislang kältesten Nacht in diesem Winter zeigt das Thermometer minus fünf Grad. Zwei Schichten Thermounterwäsche und mehrere Schichten Flies, Faserpelz und Windstopper sollen mich vor dem Erfrieren bewahren. Auf dem Weg Richtung Schwyz warnen die Moderatoren im Radio vor der Kälte; man solle die dicke Jacke nicht vergessen. Danke, zu spät, meine hängt zu Hause im warmen Schrank. Mein Kletterpartner lässt sich nicht abwimmeln, als ich ihn anrufe. Er habe vorgesorgt und zwei dicke Daunenjacken dabei. Und drei dünnere. Als Madame Etoile von einer unstabilen, emotional schwierigen Woche redet, die an unserem Selbstbewusstsein nagen wird, bin ich aufs Äusserste gefasst.

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Mit Schneeschuhen gelangen wir an den Rand der Felsen; tief unter uns ruht im Schatten das Muotathal. Wir seilen uns gleichzeitig fünfunddreissig Meter an der Südwand auf das obere Band im Sektor Gülden ab. Die Bise lässt uns die Reissverschlüsse ganz nach oben ziehen. Geschmeidig und lautlos zieht der Falke seine Runden. Wir kennen uns. Schon bald wird er weiter hinten sein Nest bauen, wie jedes Jahr. Die Kletterer werden seine Brutzeit nicht stören; weder wir noch andere. Das ist genauso Ehrensache wie Klettertermine einhalten. Eine Maus huscht schnell in ein Loch im Felsen. Weiss der Teufel, was die hier oben verloren hat.

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Wir setzen uns auf das schmale Felsband und ehren diesen Kraftort mit einem Becher Tee. Die Route, die ich klettern wollte, muss ich sein lassen. Oben im Überhang tropfen dicke Eiszapfen, die sich lösen könnten. Viele Varianten für meinen Kletterlevel gibt es in diesem Sektor nicht. Eine 6a+ ist die einzige Alternative, und an dieser werde ich mir die Zähne ausbeissen; auch im Nachstieg. Schon der Einstieg in die Route lässt mich fast verzweifeln. Die Finger der rechten Hand zwängen sich in einen engen Riss, während die linke einen etwas gelungeneren Griff erhält. Für das rechte Bein gibt es einen schwungvollen Auftakt mit einem weiten Tritt, und das linke darf sich ziemlich schnell ein griffiges Absätzchen suchen. Die Sinterstellen im Kalkgestein mehren sich, je weiter ich klettere. Wie feine Nadeln stechen die verhärteten Tropfstellen in meine Fingerbeeren. Mein Kletterpartner genehmigt sich nach meiner kräfteraubenden Kletterpartie ein paar schwerere Routen.

Die Kraft der Sonne lässt bald nach. Unsere Finger sind klamm. Wir blasen zum Rückzug, traversieren über das untere Felsband, indem wir uns am fest montierten Seil mit Karabinern sichern. Ich meide jeden Blick nach unten und konzentriere mich darauf, Fehltritte zu verhindern. Die könnten der Gesundheit schaden.
Mein Selbstbewusstsein ist an diesem Tag – entgegen der Voraussagen – nicht abhanden gekommen, emotional fühle ich mich stabil, der Montag ist gerettet und weder Finger noch Zehen sind erfroren. Madame Etoile hat wohl etwas übertrieben.

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