Keep wild climbing ist auf dem Wanderpfad am Speer nicht angesagt, und die knappe Hälfte eines Viertausenders zählt nichts. Trotzdem hat uns der Berg ganz zufrieden gemacht. © Annette Frommherz
Nur neunundvierzig Meter haben uns gefehlt, und wir hätten einen Zweitausender geschafft. Aber auch das würde nach nichts tönen und käme in keiner Weise an einen Viertausender heran. Hoch hinaus sind wir mit der Besteigung des Speers nicht gekommen, meine Freundin und ich.
Ganz anders mein Liebster, der sich gestern mit einem Bergfreund auf zum keep wild climbing, also dem Klettern ohne Spuren, machte. Das tönt toll und trendy: keep wild climbing! Dabei kannte die frühere Generation der Bergsteiger nichts anderes. Ohne fix abgesicherte Routen stiegen sie die Berge hinauf. Daheim sagten sie nur: «Ich gange z’Berg» und schulterten ihre Hanfseile. Heute nennt sich dasselbe keep wild climbing. Am Ostgrat des Pizzo Fiorasca waren sie. Ein bisschen neidisch bin ich schon.
Aber immerhin: der Speer ist der höchste Nagelfluh-Berg Europas. Das macht ihm der Pizzo Fiorasca nicht nach. Meine Freundin und mich drängte keine innovative Herausforderung, wir hatten weder Sehnsucht nach Adrenalin, noch sehnten wir uns nach einer eigenen Route – und schon gar nicht nach einer Erstbegehung. Wir wollten endlich etwas Zeit, um zusammen an der frischen Luft unterwegs zu sein und zu plaudern. Nur ab und zu dachte ich mit etwas Wehmut an meinen Liebsten und dessen Freund, die den Ostgrat des Pizzo Fiorasca bestimmt ganz für sich alleine hatten; wie Marco Volken und Christoph Blum im 2009, als sie sich erstmals dort hinaufwagten. Meine Freundin und ich teilten uns den Gipfel des Speers mit schätzungsweise vierundzwanzig anderen Berglern und drei Hunden, die uns den Servelat stehlen wollten. Aber sonst gefiel es uns da oben. Der Speer hat neben dem Gipfelkreuz auch ein Gipfelbuch, was der Pizzo Fiorasca mit Sicherheit nicht bieten kann. Und über schlechtes Wetter brauchten wir nicht zu klagen; wir konnten die Rundsicht in den höchsten Tönen loben. Mit stiller Genugtuung erfuhr ich später, dass die zwei Jungs meist im dicken Nebel wildclimbten. Wir, meine Freundin und ich, hatten es gemütlich und konnten uns an den gelben Wanderschildern orientieren. Keine einzige Route mussten wir suchen, alles lag schön vor uns ausgebreitet. Stau am Gotthard? Von wegen! Uns blieb noch Zeit für einen Höhenluft-Kaffee, wie ich die braune Brühe in den Hütten jeweils nenne. Und wir waren eine ganze Weile vor Beginn des Tatorts zu Hause. Nein, uns ging es gut, wirklich. Nur ein kleiner unbedeutender Neid vielleicht, der in mir brütet, aber eigentlich ist es nicht der Rede wert.
Weil wir, obwohl wir uns darum bemühten, kein spektakuläres Bild von der Gegend schiessen konnten, habe ich eines gestohlen. Eines, das mir mein Liebster spätabends in meinen Mail-Briefkasten legte. Ich will es niemandem vorenthalten.