Der Schreck sitzt tief – die Galerie Amden wird saniert. Und wird nie mehr so sein, wie zuvor: eine Oase, ein Biotop, ein Kraftort des Glücks.
Deviation, Pizza Buch, Ikarus: das war unser Abschied von der Galerie wie sie war, wie sie war für uns. Mitte Mai fahren die Bagger auf, der Schutt wird abgetragen, Dämpfungselemente eingebaut, Kies darüber. Vielleicht können wir ab November wieder klettern, aber es wird nicht mehr sein wie zuvor. Auf dem Dach der Steinschlaggalerie hoch über dem Walensee und der Linthebene befindet sich nicht nur der schönste Klettergarten weit und breit, die Galerie ist auch ein Biotop: Sommerflieder, Hauswurz, Wildreben und Feuerlilien wachsen auf dem kargen Grund, Eidechsen, Blindschleichen und Nattern leben hier, Mäuse stibitzen Brot aus den Rucksäcken der Kletterer. Nach der Sanierung, so ist zu befürchten, werden wir auf einem öden Kiesboden stehen, der zudem noch anderthalb Meter höher sein wird, und der Zauber ist dahin.
Dreissig Jahre alt sind die Galerien an der Strasse von Weesen nach Amden, nach einem Bergsturz errichtet. Vor zwanzig Jahren kam ich das erste Mal her, mit meinem lieben Freund Heinz. Und hatte das Gefühl: hier kommst du nirgends hoch, vergiss es. Doch statt zu vergessen, haben wir uns in diese Felsen verbissen und verliebt. Die Galerie ist Teil unseres Lebens geworden, meines Lebens jedenfalls. Ich wurde süchtig und bin süchtig und weiss nicht, wie ich den Sommer überstehe ohne Galerie. Die Abende, wo es eigentlich viel zu heiss ist zum Klettern, aber viel zu schön, um nicht dort oben zu sitzen und zu schwitzen, und dann, wenn der Schatten fällt, vielleicht doch noch Pizza Buch zu versuchen, obwohl man doch schon viel zu müde ist. Und anschliessend eine Pizza Sicilana geniessen in der Trattoria in Weesen. Oder die Morgenstunden im Schatten, bis gegen zwölf die Sonne um die Kante kommt und wir zum See hinabwandern, zu Kaffee und Mandelgipfel im Lago Mio und zum Bad im klaren Walenseewasser.
Wie viele Stunden, wie viele Höhen und Tiefen waren es in diesen zwanzig Jahren? Einmal habe ich zu zählen versucht, wie oft ich meine Kultroute «Ikarus» wohl kletterte: es mögen gegen 400 Mal gewesen sein. Und jedes einzelne Mal war es eine Mutprobe und ein Glücksmoment an der Umlenkung, und es kam auch vor, dass ich an der Schlüsselstelle ins Seil fiel. Ich kenne die Griffe und Tritte im Schlaf, und wenn ich nicht einschlafen kann, stelle ich mir Pizza Buch vor, und irgendwann schlafe ich ein. Und wenn ich nicht einschlafe, sondern die Umlenkung erreiche, dann weiss ich, ich träume nicht, sondern ich klettere wirklich und habe es nochmals gewagt. Pizza Buch ist meine Grenze, mein Prüfstein. All diese Stunden, diese immer wieder gekletterten Routen wachsen in der Erinnerung zusammen zu einem einzigen Gefühl von Glück und Weh. Dahin.
Doch vielleicht ist ja alles nicht so schlimm, es gibt auch andere Felsen und andere Dinge im Leben, ich weiss, ich weiss. Doch das ist ein schwacher Trost für einen Süchtigen auf Entzug, für einen Alten, den die Weisheit im Stich gelassen hat.