Gastort Thun

Thun reimte sich ja einst auf Miltär. Doch nun geben die Autorin und der Autor eines historisch, touristisch, nostalgischen Buches Gegensteuer. Die Stadt im Banne von Jungfrau und Weisser Frau der Blüemlisalp ist sozusagen die literarische Hauptstadt des Berner Oberlandes, wenn nicht gar des ganzen Kantons. Dass ein Abraham Roth, Verfasser eines historischen Thunführers zu den Erstbesteigern der Weissen Frau gehörte, soll wohl die Tatsache mildern, dass das Abenroth auf ihrem Schleier allmählich zum Abendgrau wird.

„Unter den hervorragenden Gebäuden dieses Stadttheils zeichnen sich links der Gasthof zum ‚Bären‘, rechts, hart am Schwäbisthor, die vielbesuchte Feller’sche Brauerei aus, von deren hart über dem rechten Aarearm gelegener Terrasse man eine reizende Aussicht geniesst. Auf der untern Brücke präsentieren sich von oben her an hellen Tagen die Jungfrau und die Blümlisalp sehr stattlich, und flussabwärts die eben genannte Brauerei sammt der grünen Promenade des Schwäbis.“

Das schreibt Abraham Roth im hübsch illustrierten Führer „Thun und seine Umgebungen“, der 1873 im Commissionsverlag der J. Dalp’schen Buch- & Kunsthandlung in Bern erschien. Roth ist einer der Erstbesteiger der Weissen Frau (am 2. Juli 1862), des Mittelgipfels der Blümlisalp; sie buhlt mit der Jungfrau um die Gunst der Bewunderer von Thuns Panorama. Roth war auch der Erste, der am Sonntag, 19. April 1863, im Verwaltungsratssaal der Schweizerischen Centralbahn im Bahnhof Olten seinen Namen aufs Protokoll der Gründungsversammlung des Schweizer Alpen-Clubs setzte. Kein unbeschriebenes Blatt also.

Auf dem Cover des Roth’schen Führers sind natürlich Schloss und Kirche abgebildet: „Die Hauptzier des alten Thun ist der Burghügel, der denn auch vor allen übrigen Merkwürdigkeiten der Stadt den Besuch der Touristen zu empfangen pflegt.“ Dort oben wurde am 9. Juni 1871 Johannes Jegerlehner geboren, als Sohn des Gefangenenwärters. Jegerlehner war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein vielgelesener Autor; fast alle Jahre veröffentlichte er einen (Berg)roman. Der Ruhm ist verblasst, fast so, wie die weiss-eisige Frau im Hochsommer immer mehr zu einem grau-steinigen Weib wird.

Andere Schriftsteller und Musiker, welche in der elftgrössten und wichtigsten Garnisonsstadt der Schweiz lebten oder sich aufhielten, kennt man noch immer. Goethe – wo war er nicht? – übernachtete zwei Mal, Rilke verbrachte drei Monate in der Aarestadt am Thunersee. Heinrich von Kleist verlebte im Sommer 1802 einige Woche und 1803 einige Tage auf einer Aareinsel, die heute als Kleist-Insel bekannt ist. Der Schweizer Dichter Robert Walser – er arbeitete 1899 in Thun als „Aktienbierbrauereiangestellter“, wie er schrieb – verfasste den wunderbaren Text „Kleist in Thun“ (1907): „Ein schönes Gedicht, ein Kind, eine wackere Tat, diese drei Dinge schweben ihm vor. Im übrigen ist er ein wenig krank. ‚Weiß der Teufel, was mir fehlt. Was ist mir? Es ist so schön hier.‘“

Das fand nicht nur Kleist, sondern zum Beispiel auch Ralph Benatzky, österreichischer Chanson- und Operettenkomponist. Von 1930 bis 1940 lebte er in einer Villa unterhalb des Aussichtspunktes Jakobshübeli und komponierte „Im weissen Rössl“ am Wolfgangsee – in Thun hätte man es lieber gesehen, wenn er seinem bestbekannten Werk den Titel „Im braunen Bären“ am Thunersee gegeben hätte…

Benatzky hat seinen Auftritt in einem neuen Thun-Buch, genauso wie Kleist und Rilke, Johannes Brahms, Ferdinand Hodler und viele andere. In „Gastort Thun. Historisch – touristisch – nostalgisch“ lassen Isabelle Schletti, Geografin und Stadtführerin, und Jon Keller, Stadtarchivar 1973-2009 und Stadtführer, die Blütezeit Thuns aufleben. Von den ersten Reisehandbüchern und Herbergen bis zum mondänen Leben in den Grand-Hôtels im Hofstettenquartier: Wir tauchen ein in eine glanzvolle Epoche, lernen Passanten und Prominenz kennen, erfreuen uns an den vorzüglichen Illustrationen. Im Anhang finden sich reichhaltigen Quellen- und Literaturangaben. Was leider fehlt, ist ein Personenverzeichnis. Aber Roth ist dabei, Jegerlehner auch. Und von wem der folgende Spruch stammt, ist ja nicht so wichtig. Er ist zu finden auf einer alten Postkarte, die im Historischen Museum im Schloss Thun ausgestellt ist: „Nichts thun ist schön, doch Thun ist noch schöner.“

Isabelle Schletti, Jon Keller: Gastort Thun. Historisch – touristisch – nostalgisch. Zytglogge Verlag, Oberhofen am Thunersee 2012, Fr. 42.-

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