Seit die Menschen bewusst und freiwillig Berge besteigen, haben sie sich auch schriftliche Gedanken zu ihrem Tun jetzt und einst gemacht. Vier neue Bücher befassen sich unterschiedlich mit der Geschichte des Alpinismus.
«1965 bewies Walter Bonatti es sich selbst und allen anderen ein letztes Mal: Zum hundertjährigen Jubiläum der Matterhorn-Erstbesteigung kletterte er eine neue Direktroute durch die Nordwand des berühmtesten aller Alpengipfel, allein und im Winter. Dann war Schluss mit Bergsteigen. […] Bonatti wurde einundachtzig Jahre alt, die letzten dreißig Jahre war er verheiratet mit der Schauspielerin Rossana Podestà. Einer ihrer Filmtitel beschrieb den Charakter ihres Gatten recht gut: Männer ohne Tränen.»
Das macht den Reiz und das Lesevergnügen von Malte Roepers „Eine kleine Geschichte des Bergsteigens. Von der Erstbesteigung des Mont Blanc zum Free Solo am El Capitan“ aus: der Blick über die Wand und den Berg hinaus. Alpinismus ist für die meisten Menschen ein Abseits vom Alltag, aber auch Profibergsteiger kehren immer wieder auf den flachen Boden (der Gesellschaft) zurück, wo sich ganz gut neue Tiefen oder Höhen zeigen können. Roeper kletterte nicht nur selbst am scharfen Ende des Seils in vereisten Fluchten ob Chamonix, er klettert auch zügig und gezielt durch die Geschichte dieses Sportes, wobei er gleich zwei Kapitel der Freikletterrevolution ab den 1970er Jahren widmet. Ein paar kleine Stolperer in der Frühzeit des Bergsteigens sind zu vermerken, eigentlich nicht der Erwähnung wert. Seine kleine Geschichte des Alpinismus ist gross und hat erst noch gut im Rucksack Platz. Im Kapitel „Achttausender und die Eisenzeit“ beleuchtet er die damals in der Fachpresse arg kritisierte Superdirettissima in der Nordwand der Grossen Zinne vom Januar 1963, die mit einem von Italienern organisierten Fest gefeiert wurde: „Einer der Kletterer, Rainer Kauschke, verliebte sich in die junge Signorina Milva Cuberli. Sie haben geheiratet und leben noch heute glücklich in Toblach. Soll nochmal einer sagen, die Direttissima-Kletterer hätten irgendetwas verkehrt gemacht.“
Besondere Geschichten tischt ebenfalls Claude Gardien in „Une histoire de l’alpinisme“ auf. Zum Beispiel diejenige der US-Amerikanerin Chantel Astorga, die im Juni 2021 die erste Frauen-Solobegehung der Cassin-Ridge am Denali, dem höchsten Gipfel von Nordamerika, machte: „Sur son sac, une paire de skis qu’elle utilise pour la descente. Les filles, désormais, osent tout!“ Die Frauen wagten aber schon früher alles, wie Loulou Boulaz und Paula Wiesinger; im Fels waren die beiden Sestogradistinnen noch erfolgreicher unterwegs als auf Skis. Sie haben je ihren Eintrag im Buch von Gardien, das nach Jahreszahlen angeordnet ist, von 3300 v. Chr. (Ötzi, wer sonst!) bis 2021 (Wintererstbesteigung des K2, des zweithöchsten Gipfels der Welt), mit je einer Seite Text und Bild. Gut und spannend gemacht, auch zu Themen wie Eröffnung der Seilbahn auf die Aiguille du Midi (1955) oder zur Jümar-Steigklemme (1958). Ein paar Ausrutscher passieren, wie auf Seite 32, auf der Melchior Anderegg mit Christian Almer verwechselt wird, ausgerechnet mit seinem grössten Konkurrenten bei Premieren. Tant pis! 1980 ein Eintrag zu Walter Bonatti, „aujourd’hui encore un phare pour l’alpinisme moderne“; das Foto zeigt ihn zusammen mit Rosanna vor der Bergbuchhandlung in Courmayeur.
Wer viel über Bonatti lesen möchte und seine Sprache fast so beherrscht wie Walter einst Fels und Eis, greift zu „Storia dell’alpinismo. Le grandi sfide tra l’uomo e la montagna”. Auf 145 Seiten schildert Claudio Gregori Bonattis wichtigste Touren, dabei zahlreiche Quellen und Literatur benützend – Fussnoten 375 und 379 zitieren Goethe bzw. Shakespeare. Schwerpunkt im 800-seitigen Buch (ohne Abbildungen) bilden neben Bonatti weitere italienische Alpinisten: Luigi Amedeo di Savoia-Aosta, Tita Piaz, Emilio Comici, Ettore Castiglioni, Giusto Gervasutti, Riccardo Cassin und – keine Frage, wer das ist, wahrscheinlich der berühmteste Bergsteiger überhaupt: Reinhold Messner. 114 Seiten sind seiner Karriere gewidmet, vom Ortsteil Pitzack in Villnöss im Südtirol über die 14 Achttausender, die er als Erster alle bestieg, bis zum Messner Mountain Museum an sechs verschiedenen Standorten in Alto Adige und Veneto.
Mit der Geschichte des Alpinismus hat sich Reinhold Messner immer wieder auseinander gesetzt. Mit „Zwischen Durchkommen und Umkommen. Die Faszination des Bergsteigens“ legt er eine neue Publikation vor, die sich insbesondere mit dem traditionellen Alpinismus befasst; das Freiklettern wird nur am Rande behandelt. Während der Bildband durch tolle Abbildungen besticht, gibt es doch Einiges zu bemängeln, gerade auch bei den Illustrationen; auf einer Doppelseite zur Erstbesteigung des Matterhorn wird auch Whympers Zeichnung von Christian Almers Sprung während der Erstbesteigung der Barre des Écrins im Jahr 1864 gezeigt, ohne weitere Erklärung. 70 Seiten listen Daten und Fakten des „Trad Alpinism“ (so Messner im Vorwort) auf, und dort hat es ein paar Ungenauigkeiten zu viel. Ein Beispiel mag genügen, von 1963: „Walter Bonatti besteigt mit Cosimo Zappelli den Grand Pilier d’Angle.“ Mehr steht nicht. Im Oktober 1963 besteigen Bonatti und Zappelli tatsächlich den Grand Pilier d’Angle, und zwar erstmals über die sonnige Ostwand. Alpinistisch wichtiger ist aber ihre erste Durchsteigung der Nordostwand des gleichen Gipfels im Juni 1962. Diese Erstbegehung fehlt bei Messner. Bonatti bezeichnete sie als seine härteste Tour im Mont-Blanc-Massiv; Originalton aus Bonattis Buch „Groβe Tage am Berg“ von 1972: „Diese etwa tausend Meter hohe ‚Hölle‘ in Form eines riesigen Trichters erweckt bares Grausen.“
Malte Roeper: Eine kleine Geschichte des Bergsteigens. Von der Erstbesteigung des Mont Blanc zum Free Solo am El Capitan. Riva Verlag, München 2021, € 15,00.
Claude Gardien: Une histoire de l’alpinisme. Éditions Glénat, Grenoble 2021, € 25,00.
Claudio Gregori: Storia dell’alpinismo. Le grandi sfide tra l’uomo e la montagna. Diarkos editore, Santarcangelo di Romagna 2021, € 23,00.
Reinhold Messner: Zwischen Durchkommen und Umkommen. Die Faszination des Bergsteigens. Ludwig Verlag, München 2021, € 32,00.